Die zwölf Gebote Sidney Sheldon 12 Geschichten vom Sinn und Unsinn der 12 Gebote: von Menschen, die erst durch die Nichtbeachtung der Gebote ihr Glück fanden, zum Beispiel von Tony, dem jungen sizilianischen Bildhauer, der entgegen dem heiligen Gebot ein Ebenbild Gottes fertigt, das ihm zu Reichtum und der Hochzeit mit seiner Geliebten verhilft. Die zwölf Gebote 1. KAPITEL Reden wir mal von Wundern. Die Bibel ist voll von ihnen, und ein paar sind auch wirklich prächtig. Diese Geschichten sind über ein paar tausend Jahre immer weiter überliefert worden. Ob sie wahr sind, mag jeder selbst für sich entscheiden. Aber man muß zugeben, daß sie außerordentlich aufregend sind. Wir kennen natürlich alle die Geschichte von Adam und Eva. Nach der Bibel hat mit ihnen die ganze Geschichte überhaupt erst angefangen. Gott schuf den Himmel und die Erde. Und er schuf die Berge und die Bäume und die Tiere. Aber dann hatte er das Gefühl, daß irgend etwas fehlte. „Ich weiß schon, was fehlt", sagte Gott. „Ich werde noch einen Menschen machen." Er nahm eine Handvoll Lehm, knetete ihn in die Form eines Menschen und hauchte ihm den Odem des Lebens ein. „Ich bin Gott", sprach er zu ihm, „und du bist Adam." Adam sah sich verwundert um und fragte: „Wo bin ich?" „Du bist im Paradies, im Garten Eden." „Ganz hübsch hier", sagte Adam. „Erfreue dich daran", sprach Gott. Gott hatte also den Menschen erschaffen, aber nach wie vor hatte er so ein Gefühl, daß da noch etwas fehlte. Aber natürlich, dachte er bei sich. Eine Frau. Während Adam schlief, entnahm ihm Gott eine Rippe und formte aus ihr eine Frau und die nannte er Eva. Adam war entzückt, als er sie sah. „Nun freut euch mal eures Lebens, ihr beide",sprach Gott. „Nur eines dürft ihr auf keinen Fall: einen von diesen Äpfeln essen." Er deutete auf die herrlich appetitlich aussehenden Äpfel an dem Baum. „Dies ist die Frucht am Baum der Erkenntnis, und es ist euch verboten, davon zu kosten." „Verstehe", sagte Adam. „Ist gut", sagte Eva. „Wir rühren sie nicht an." Aber da war in diesem Garten Eden auch eine Schlange, eine böse Schlange. Die hatte der Teufel geschickt. „Ihr wißt ja gar nicht, was euch da entgeht", sagte diese Schlange zu den beiden. „Diese Äpfel sind doch. überhaupt das Köstlichste auf eurer ganzen Welt." „Wir haben aber versprochen", sagten Adam und Eva, „daß wir sie nicht anrühren." „Ihr müßt doch gar nicht alle essen", sagte die Schlange. „Ihr braucht doch nur einen zu nehmen." „Na ja", meinte Eva. „Einmal ist keinmal, oder? Einer kann doch wohl nicht schaden." Also aßen sie vom Baum der Erkenntnis. Gott war mächtig zornig. „Ihr habt euer Versprechen gebrochen, das ihr mir gegeben habt!" donnerte er. „Ihr habt gesündigt!" Und damit warf er sie aus dem Paradies hinaus, und sie mußten sich draußen in der weiten Welt herumtreiben. Also jedenfalls ist das die Geschichte, wie sie in der Bibel steht, nicht? Oder nehmen wir die Geschichte von der Arche Noah. Eines Tages fand Gott, daß es einfach zu viele Sünder auf der Welt gab. Mit der Erschaffung des Menschen, dachte er, habe ich entschieden einen Fehler gemacht. Vielleicht sollten wir damit noch einmal ganz von vorne anfangen. Das Problem dabei war, daß Gott nicht gut gleich alle Menschen ausrotten konnte, denn woher sollten dann die neuen Menschen kommen? Also entschied er sich dafür, einen anständigen Mann und seine Familie zu suchen, damit die die Erde neu bevölkerten. Er sah sich sorgfältig um. Er erblickte Lügner und Diebe und Mörder und Gauner und wurde darüber sehr niedergeschlagen. Doch dann sah er eines Tages den Noah. Der war ein einfacher, aber rechtschaffener Mann, und er hatte eine Frau und Söhne und Schwiegertöchter. Tadellos, fand Gott. Und er sprach zu Noah. „Paß mal auf, Noah, ich setze die Welt unter Wasser und ersäufe alle Menschen." „Wieso erzählst du mir das, Gott?" fragte Noah. „Na, weil ich beschlossen habe, daß du mit deiner Familie nicht umkommen sollst." Das schmeichelte dem Noah natürlich schon sehr. „Nur, wie mache ich das, daß ich nicht ertrinke?" fragte er. Da gab ihm Gott seine Anweisungen. „Paß auf, du baust eine Arche, ja? Das ist ein großes Boot oder Schiff. Und ich meine ein wirklich großes, Noah, klar? So, und dann sammelst du dir sämtliche Tierarten zusammen, zwei von jeder, ein Pärchen, und die packst du samt deiner Familie in diese Arche, ja?" „Na gut", sagte Noah. Und er schaffte es auch. Er sammelte Zebras ein und Elefanten und Tiger und Löwen, Affen und Pferde - eine richtige Riesenmenagerie. Und dann marschierten sie alle auf die Arche, und zuletzt kam: Noah mit seiner Familie nach, und er war bereit für alles, was nur kommen mochte. Was kam, war, daß es zu regnen anfing. Und wenn es in der Bibel schon mal heißt, regnen, dann regnet es auch ordentlich. Das ging vierzig Tage und Nächte lang und hörte keine Sekunde auf. Kleine Städte versanken im Wasser und große Städte ebenso und ganze Länder, bis nichts mehr zu sehen war - außer Noahs Arche, die auf diesem ganzen Überschwemmungswasser schwamm und ihn und seine Familie und seine ganze Tierauswahl sicher trug. Am Ende der vierzig Tage, als Gott alles ertränkt hatte, ließ er die Arche auf dem Berg Ararat aufsetzen. Und das Wasser fiel wieder, und Noah und seine Familie konnten anfangen, die Erde neu zu bevölkern. Wunder! Noch ein anderes Wunder in der Bibel war doch die Teilung des Roten Meers, nicht? Die Hebräer waren in Ägypten in der Sklaverei gehalten worden, und das gefiel ihnen natürlich gar nicht. Die konnten sich nicht frei bewegen, wie sie wollten. Sie konnten nicht wählen gehen. Bezahlt für ihre Arbeit wurden sie auch nicht. Sie waren einfach Sklaven. Da kam dann eines Tages ein gewisser Moses, ein großer Anführer, und sagte: „Ihr müßt uns jetzt mal helfen, daß wir was dagegen unternehmen. Wir haben diese Sklaverei satt bis zum Kragen." Zwar wußte auch Moses nicht so genau, was man denn unternehmen könnte, weil der König immerhin eine große und gutausgerüstete Armee hatte und jeder, der auch nur den kleinsten Fluchtversuch unternahm, daran glauben mußte. Aber er sagte zu ihnen: „Laßt mich nachdenken." Dabei beschloß er dann, sich mal mit Gott darüber zu unterhalten. „Also Gott", sagte er, „es ist so, unser Volk ist ziemlich unglücklich. Die Leute wollen nicht mehr wie Tiere behandelt werden. Sie wollen freie Menschen sein. Jeder, der auch nur ein Wörtchen gegen den König sagt, ist so gut wie tot. Kannst du da nichts tun und uns helfen?" Als Gott diese Aufforderung hörte, sagte er: „Also gut, Moses, du führst unser Volk aus Ägypten hinaus und zwar in ein Land, wo sie dann frei sind." Versteht sich, daß Moses darüber freudig erregt war. Er ging zurück zu seinem Volk und sagte: „Alles klar, Leute, ich habe mit Gott geredet, und ich schaffe euch hier weg." Am nächsten Morgen versammelten sich alle Hebräer heimlich an der Stelle, die Moses ausgesucht hatte, und Moses sagte zu ihnen: „Nun kommt, und zwar mucksmäuschenstill." Und so begann der lange Marsch. Sie zogen zur Grenze von Ägypten und hofften, sich aus dem Land schleichen zu können. Unglücklicherweise sah sie ein Freund des Königs, als sie schon fast am Roten Meer waren, und eilte zu ihm hin. „Die Hebräer hauen ab!" rief er. „Sie marschieren aufs Rote Meer zu. Dieser Moses ist ihr Anführer." Der König war außer sich und ließ sofort einen seiner Generäle kommen. „Ich höre da gerade, daß Moses die Hebräer aus dem Land hinausführen will. Die müssen aufgehalten werden." Er dachte kurz nach. „Nicht nur aufgehalten, sondern getötet, alle. Verstanden?" „Jawohl, Euer Majestät." Schon nach einer Stunde war die königliche Armee marschbereit. Und weil sie beritten war, galoppierte sie geschwind wie der Wind zum Roten Meer, wo die Hebräer zuletzt gesehen worden waren. Mittlerweile aber hatten die Hebräer das Rote Meer bereits erreicht. Eigentlich wollten sie es ja auf Schiffen überqueren, aber zu ihrer Enttäuschung war weit und breit kein Schiff zu sehen. Außer dem endlosen Wasser erblickten sie rein gar nichts. Da wandte sich einer an Moses: „Wie sollen wir darüber kommen?" fragte er. „Da ersaufen wir doch alle." Moses war total sauer. Er hatte natürlich angenommen, daß Gott auch für Schiffe sorgen werde. „Na, vielleicht bauen wir uns Schiffe", schlug er vor. Doch in dem Moment kam einer angerannt. „Moses, Moses! Die Soldaten des Königs kommen! Jeden Augenblick sind sie hier!" Da war Moses klar, daß sie alle verratzt waren. Gott hatte sie im Stich gelassen. Er sah hinauf zum Himmel und sagte: „Also, weißt du, Gott, ich verstehe nicht, wie du so etwas mit deinem Volk machen kannst. Du hast mir doch versprochen, daß ich es sicher aus Ägypten rausschaffe!" Da dröhnte auf einmal Gottes Stimme. „Vertrau mir. Sag deinem Volk, es soll ins Meer marschieren." Das leuchtete Moses ja nun gar nicht ein. Was denn, wie sollten Menschen ins Meer marschieren, ohne darin zu ertrinken? Andererseits war ihm klar, daß es gegen Gott keine Widerrede gab. Also wandte er sich an sein Volk und sagte: „Ich habe noch mal mit Gott geredet. Wir sollen ins Meer marschieren, sagt er." Da waren sie alle entsetzt, aber weil sie hinter sich schon die Hufe der Pferde der Soldaten donnern hörten, sagten sie sich: Mein Gott, lieber ersaufen, als von den Soldaten niedergemacht werden. „Also dann, mir nach", sagte Moses und begann ins Wasser zu waten. Aber kaum hatte er den ersten Schritt hineingetan, als ein Wunder geschah. Mit offenem Mund sahen sie, wie sich das Rote Meer teilte und daß sie trockenen Fußes durchmarschieren konnten. Da applaudierten sie alle begeistert, zogen durch das Rote Meer und beeilten sich, damit die Soldaten sie nicht doch noch erreichten. Als sie auf der anderen Seite waren und sich umdrehten, sahen sie, wie drüben gerade die Soldaten daherkamen und begriffen, daß ihnen die Hebräer entkamen. „Hinterher!" schrie ihr General. Moses beobachtete, wie die Soldaten des Königs ins Meer hineinritten. Aber als die mittendrin waren, da schloß sich das geteilte Wasser auf einmal wieder über ihnen und alle ertranken. Gott hatte sein Versprechen gehalten. Die Hebräer waren gerettet. Dann wäre da zum Beispiel noch ein Wunder aus der Bibel. In Israel lebte ein gewisser Samson. Der war so stark, daß er mal tausend Soldaten auf einen Schlag erledigte und zwar mit nichts weiter als dem Kieferknochen eines Esels. Die Tyrannen, die Israel damals regierten, versuchten alles, diesen Samson zu fangen, aber sie hatten kein Glück. Sooft sie Soldaten gegen ihn ausschickten, war es um sie geschehen. Nun hatte Samson eine Freundin, eine gewisse Delilah oder Dahlilah. Zu der kamen sie und sagten: „Wir wollen den Samson fangen, könntest du uns dabei nicht helfen? Du müßtest das Geheimnis seiner Stärke herausfinden." Na gut, also in der nächsten Nacht fragte die Delilah oder Dalilah den Samson: „Sag mal, was macht dich eigentlich so stark?" Und Samson gab ihr bereitwillig Auskunft. „Das sind meine Haare", sagte er. „Wenn sie mir mal jemand abschnitte, wäre ich nicht mehr stärker als jeder gewöhnliche Mann auch." Noch in derselben Nacht schnitt ihm Delilah oder Dalilah, während er schlief, die Haare ab. Als er am Morgen aufwachte, war er schwach und hilflos. Die Herrscher legten ihn in Ketten und machten ihn zum Sklaven. Sie lachten ihn aus und machten sich über ihn lustig, weil er nun nicht mehr stärker war als alle anderen auch. Damit auch sicher war, daß er nie wieder stark wurde, stachen sie ihm die Augen aus und schmiedeten ihn mit Ketten an die Tempelsäulen. Darüber vergingen einige Wochen und dann machten sie einen Fehler, und zwar einen ganz schlimmen. Es entging ihnen völlig, daß Samsons Haare wieder nachzuwachsen begannen. Eines Nachts dann, als sie gerade eine große Party im Tempel feierten, zog Samson, der genau an die Pfeiler gekettet war, welche den Tempel trugen, kräftig an seinen Ketten, bis die Säulen umfielen und der gesamte Tempel in sich zusammenstürzte. Alle, die darin waren, kamen um. Allerdings bedauerlicherweise auch Samson selbst. Und was, weil wir gerade von Wundern reden, ist mit Jonas und dem Wal? Gott schickte Jonas in eine Stadt namens Ninive, aber Jonas hatte keine Lust dazu. Er sagte zu einem Freund: „Ich habe Wichtigeres zu tun." „Da wird Gott aber böse sein", sagte der Freund. „Ach, der", sagte Jonas, „der ist so beschäftigt, der merkt das gar nicht." „Du traust dich was", sagte der Freund. „Ach Quatsch", sagte Jonas. Und er bestieg ein Schiff, das zu einer ganz anderen Stadt fuhr. Na ja, damit hatte er natürlich einen großen Schnitzer begangen. Gott hatte es nämlich sehr wohl gemerkt und war fuchsteufelswild, Er machte einen Riesensturm, in dem das Schiff herumgeworfen wurde wie eine Nußschale. „Wir sinken!" sagte der Kapitän. „Und alles wegen dir, Mann. Weil du nicht getan hast, was dir Gott anschaffte." Jonas wußte schon, daß der Kapitän recht hatte. Das ganze Schiff mit Mann und Maus würde untergehen. „Also gut", sagte er. „Dann springe ich eben ins Meer. Wenn ich vom Schiff runter bin, stoppt Gott auch den Sturm wieder, und ihr seid gerettet." Es war ihm völlig bewußt, daß das seinen Tod bedeutete, aber er verdiente ihn auch, sah er selbst ein, weil er Gott nicht gehorcht hatte. Kapitän und Mannschaft sahen zu, Wie er ins fürchterlich tobende Meer sprang, und es war ihnen klar, daß er ertrinken würde. Aber Gott tat wieder einmal ein Wunder. Als Jonas ins Wasser fiel, schnappte ihn ein großer Wal und verschluckte ihn. Tief in dessen Magen betete Jonas zu Gott um Vergebung. Er betete drei Tage und drei Nächte lang, und danach beschloß Gott, ihn zu erretten. Nämlich, der Wal tat sein großes Maul auf und spid en Jonas ans Ufer aus. So. Vor zweitausend Jahren war es gang und gäbe, den wilden Löwen Menschen zum Fraß vorzuwerfen. Hatte jemand, Mann oder Frau, ein Verbrechen begangen oder etwas getan, das dem König mißfiel, sagte der König kurz und schlicht: „Werft ihn, oder sie, den Löwen vor." Da gab es eine riesige Arena, so eine Art Theater, wo die Leute sitzen und zuschauen konnten, wie die Löwen auf die armen Teufel losgingen, die man ihnen zum Fraß vorgeworfen hatte. Und da gab es einen netten, jungen Mann, der hieß Daniel. Den mochten alle gut leiden. Nur im Hofstaat des Königs waren sie eifersüchtig auf ihn, weil Daniel beim König einen Stein im Brett hatte. Also logen sie dem König etwas vor von wegen, daß Daniel hinter seinem Rücken über ihn herziehe. „Was?" sagte der König wütend. „Na, dann werft ihn mal gleich den Löwen vor!" Das freute sie. Endlich würden sie diesen Daniel loskriegen. Sie warfen ihn also in eine Grube mit hungrigen Löwen und überließen ihn diesen zum Fraße. Und das feierten sie groß. „Endlich brauchen wir uns wegen diesem Daniel keine Sorgen mehr zu machen." „Jetzt können wir selbst beim König einen Stein im Brett haben." „Gleich morgen früh sehen wir nach, was von Daniel noch übrig ist." So gingen sie am nächsten Morgen zu der Löwengrube, aber dann blieben sie wie angewurzelt stehen und trauten ihren Augen nicht. Da saß Daniel ganz friedlich mitten unter den Löwen, und die leckten ihm das Gesicht wie kleine Hündchen. Gott hatte die Bestien gezähmt und Daniel errettet. Da ließen sie ihn voller Furcht aus der Löwengrube heraus und gelobten, ihm niemals wieder nachzustellen oder ihm Böses zu tun. Wunder! Wißt ihr, wieso wir alle verschiedene Sprachen reden? Da gab es mal eine Zeit auf der Erde, da redeten alle dieselbe Sprache. Die Leute aus den verschiedensten Ländern konnten sich problemlos miteinander unterhalten. Und darauf waren sie auch mächtig stolz. Einer aus der Stadt Babel hatte eine Idee. „Wißt ihr was, wenn wir alle zusammenarbeiten, könnten wir einen Turm bis in den Himmel bauen." „Starke Idee!" sagte ein anderer. „Packen wir's an!" Gesagt, getan, sie holten sich Ziegel und Mörtel und was man sonst so braucht, um einen Turm zu bauen, und fingen an, ihn zu errichten. Es sollte das größte und wunderbarste Bauwerk der ganzen Welt werden. Doch das erforderte Jahre und Jahre, aber jedes Jahr wurde ihr Turm höher und höher. Darüber wurden viele Arbeiter alt und starben, und ihre Söhne traten an ihre Stelle und machten weiter. Nichts konnte den Turmbau aufhalten. Der Turm wuchs wirklich immer weiter in den Himmel hinauf. Nach vielen Jahren hatten sie den Himmel tatsächlich erreicht, genau wie geplant. Aber als Gott das sah - daß sie ihm sogar den Himmel ankratzten -, gefiel ihm das überhaupt nicht. Der einzige Grund, dachte er, warum sie das fertigbrachten, war, daß sie alle dieselbe Sprache redeten und deshalb auch zusammenarbeiten konnten. Das wollen wir doch mal unterbinden. Und es gab einen Blitz, und auf der Stelle redeten alle Völker plötzlich mit verschiedenen Zungen. Die einen redeten japanisch, die anderen englisch, und es gab welche, die redeten spanisch oder schwedisch oder polnisch. Folglich verstanden sie einander nicht mehr. Der Mann, der die Bauleitung des Turms hatte, erteilte Anweisungen, aber keiner kapierte ein Wort. Alles ging derart durcheinander, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als mit dem Turmbau aufzuhören - exakt, was Gott wollte. Sie ließen den Turm einfach stehen und zerstreuten sich in alle Welt. Und so entstanden die Sprachen. Jetzt aber: Habt Ihr schon mal von den Zehn Geboten gehört? Die Geschichte geht so: Moses kam vom Berg herunter und hatte zwei Steintafeln unter den Armen, die ihm Gott gegeben hatte. Auf denen standen die Zehn Gebote. Ein Gebot ist eine Vorschrift, die man befolgen muß. Ich verrate Euch ein Geheimnis. Diese Geschichte in der Bibel ist überhaupt nicht wahr. Es ist nämlich nicht allgemein bekannt, daß es in Wirklichkeit zwölf Gebote waren! Was passiert war, ist, daß Moses eigentlich mit dreien dieser Steintafeln von dem Berg herunterkam. Doch auf dem Weg fiel er einmal hin, wobei eine der Tafeln zerbrach, so daß halt nur noch zehn Gebote übrig waren. Die Sache war ihm so peinlich, daß er sie keiner Menschenseele jemals verriet. Die Zwölf Gebote lauten wie folgt: Erstes Gebot: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Zweites Gebot: Du sollst den Namen Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen. Drittes Gebot: Du sollst den Feiertag heiligen. Viertes Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden. Fünftes Gebot: Du sollst nicht töten. Sechstes Gebot: Du sollst nicht ehebrechen. Siebtes Gebot: Du sollst nicht stehlen. Achtes Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Neuntes Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut. Zehntes Gebot: Du sollst dir kein Bildnis von mir machen. Elftes Gebot: Du sollst nicht lügen. Zwölftes Gebot: Du sollst deinen Mitmenschen kein Leid zufügen. Moses sagte den Leuten, jeder, der diesen Geboten zuwiderhandle, werde bestraft. Nun, das ist die Version des Moses von der Geschichte. Aber wir wollen uns mal ein paar Geschichten von Leuten anhören, die Gottes Gebote übertraten. Und was passierte mit ihnen? Sie wurden reich und glücklich und berühmt! 2. KAPITEL DAS ERSTE UND ZWEITE GEBOT: Du SOLLST KEINE ANDEREN GÖTTER NEBEN MIR HABEN. DU SOLLST DEN NAMES GOTTES, DEINES HERRN, NICHT MISSBRAUCHEN. Die erste Geschichte handelt von einem Mann, der gleich zwei Gebote auf einmal brach, nämlich das erste: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Und das zweite: Du sollst den Namen Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen. Was die Geschichte besonders interessant macht, ist, daß dieser Mann ausgerechnet ein Priester war. Er hieß George. Seit George ein kleiner Junge gewesen war, hatte er der katholischen Kirche angehören wollen. Er war sehr religiös. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, eines der Zwölf Gebote zu brechen. Jeden Sonntag ging er zur Kirche, und er betete täglich. Als er alt genug war, sagte er zu seinem Vater: „Ich möchte Priester werden." Während die anderen Jungs alles mögliche anstellten, Fensterscheiben einschlugen, logen, schummelten und keinen Pfifferling auf die Gebote gaben, bemühte sich George eifrig, niemals Falsches oder Böses zu tun. Als er achtzehn Jahre alt war, ging er, statt wie seine Schulfreunde aufs College, ins Priesterseminar und studierte Theologie. Nun befanden sich dort natürlich alle Knaben zu dem Zweck, Priester zu werden, und waren ohnehin schon alle gut, sanft und edelmütig, weil dies nun einmal zu Priestern so gehört. George jedoch ging selbst da allen auf die Nerven. Keiner der anderen Priesterschüler konnte ihn ausstehen, und selbst die Lehrer mochten ihn nicht. Warum? Weil er derart penetrant gut war. Waren die anderen sanftmütig und nett, so war George noch sanftmütiger und netter. Waren die anderen rein, so war George noch reiner. Waren die anderen heilig, so war George noch heiliger. Nicht einer hielt. es in seiner Nähe aus. Beging irgendeiner auch nur den kleinsten Fehler, war George schon an seiner Seite und sagte: „Das hättest du nicht tun dürfen. Das gefällt Gott gar nicht." Ihm konnte es keiner recht machen. Gut, in einem Priesterseminar erwartet man nichts anderes, als daß alle mächtig heilig sind. Aber George war einfach zu heilig. Alle waren schon nervös, wenn er nur auftauchte. Jeder hatte Bammel davor, einen Fehler zu machen, wenn George nur in der Nähe war. Als George mit seinem Studium fertig war, wurde er zum Priester geweiht. Es war der glücklichste Augenblick seines Lebens. Er reiste zu seinen Eltern zu Besuch. Sein Vater schmauchte gerade eine Zigarre. „Du solltest nicht rauchen", sagte George. „Zigarren sind Teufelskraut." Seine Mutter saß vor dem Fernseher. „Es ist Sonntag", sagte George. „Statt fernzusehen, solltest du in der Kirche sein und beten." Sein kleiner Bruder sagte: „O Gott, ich hasse dieses Schönanziehen am Sonntag." George war entsetzt. „Du hast das Wort >Gott< in den Mund genommen! Niemals, nie sollst du den Namen Gottes, deines Herrn, fahrlässig aussprechen und mißbrauchen. Du wirst in der Hölle dafür bestraft werden!" „Ich glaube nicht an die Hölle", sagte sein kleiner Bruder. „Kleiner Bruder, du bist ein Sünder! Ich werde für dich beten!" Er wandte sich an seine Eltern. „Ihr seid alle Sünder! Ich werde für euch beten!" Sie konnten es alle gar nicht erwarten, bis George wieder wegfuhr. Georges erste Pfarrei war in einer kleinen Stadt in Vermont. Dort gab es überhaupt nur diese einzige Kirche. Der vorige Priester war fortgegangen, und die Leute wollten rasch einen neuen haben. Der war George. Sie freuten sich sehr darauf, ihren neuen Priester willkommen zu heißen. Aber schon nach einer Woche hätten sie ihn gern wieder losgehabt. Zum katholischen Ritus gehört die Beichte. Die Leute knien sich in eine kleine Nische und reden mit dem Priester, der verborgen auf der anderen Seite sitzt. Sie beichten ihm ihre Sünden. Nun war der vorige Priester ein sehr gütiger Mann gewesen. Beichtete ihm eines seiner Pfarrkinder seine Sünden, so sagte er: „Bete fünfzig Ave Maria, mein Sohn (oder meine Tochter), und deine Sünden sind dir vergeben." Aber nicht so George. O nein. Die erste Beichte, die er hörte, war die eines jungen Mädchens, das in den Beichtstuhl kam und sagte: „Pater, ich habe gesündigt." „Was hast du getan?" fragte George. „Mein Freund hat mich neulich zum Tanz ausgeführt, und wir haben Whisky getrunken, und dann habe ich mich von ihm anfassen lassen." George auf der anderen Seite des Beichtstuhlgitters schrie geradezu: „WAS HAST DU?" Dem Mädchen verschlug es buchstäblich die Sprache. „Wie konntest du das nur tun?" ereiferte sich George. „Weißt du denn nicht, daß Whisky das Getränk des Teufels ist? Und du läßt dich von einem Mann berühren? Von einem Mann, mit dem du nicht verheiratet bist? Du bist niedrig und böse! Verlasse sofort meinen Beichtstuhl!" Das arme Mädchen war völlig verwirrt und lief weinend zu seiner Mutter nach Hause. Der nächste, der in den Beichtstuhl kam, war ein schon älterer Mann. „Pater, ich habe gesündigt." „Schande über dich!" sagte George. „Was hast du getan?" Der alte Mann war nicht daran gewöhnt, daß ein Priester so mit ihm sprach. Priester hatten mitfühlend und verständnisvoll zu sein. „Ich bin arbeitslos", sagte der alte Mann. „Ich besitze keinen Pfennig, habe aber einen Enkel zu versorgen. Es war nichts Eßbares im Hause, und da habe ich auf dem Markt ein Brot gestohlen, damit ich meinem Enkelkind zu essen geben kann." „DU HAST BROT GESTOHLEN? DIEB!" „Aber mein Enkelkind..." „Ich will keine Ausreden hören! Du hast das siebte Gebot gebrochen: Du sollst nicht stehlen! Ins Gefängnis muß man dich werfen!" Der alte Mann traute seinen Ohren nicht. Das nächste Beichtkind war eine Frau. Sie sagte: „Pater, ich habe gesündigt." George war bereits zornig. „Was ist mit euch Leuten hier eigentlich los? Habt ihr denn alle gesündigt? Warum könnt ihr nicht sein wie ich?" Dann zwang er sich jedoch, sich zu beruhigen und sagte: „Also, erzähle mir deine Sünde. Ich hoffe nur, es ist nichts zu Ernstes." „Nein, Pater, Ernstes ist es nicht. Ich bin verheiratet. Neulich rief mich ein alter Freund von früher an. Aber ich wollte nicht mit ihm reden und legte auf. Als mein Ehemann fragte, wer das gewesen sei, sagte ich, falsch verbunden. Sie sehen, es war nur eine ganz kleine Sünde, aber... " „Es gibt keine kleinen Sünden!" donnerte George. „Du bist eine Lügnerin! Gott vergibt Lügnern nicht!" Sein Pfarrkind war geschockt. „Ich habe es doch nur um des Friedens in meiner Familie willen getan, Pater!" „Gott kümmert nicht, warum du es getan hast. Er weiß nur, daß du gelogen hast!" Jetzt, wo er seine eigene Pfarrei hatte, war George noch schlimmer, als er schon im Priesterseminar gewesen war. Er war derart rein und heilig, daß es nicht auszuhalten war. Bei seiner ersten Predigt von der Kanzel blickte er streng in die Runde und sagte: „Ich bin jetzt euer neuer Priester. Mein Name ist George. Ich bin ein reiner und frommer Mann. Wenn ich mir euch so ansehe, erblicke ich nichts als eine Kirche voller Sünder, ihr alle miteinander. Ihr seid böse, aber ich werde das ändern. Wenn ich erst mit euch fertig bin, werdet ihr alle gut und rein sein und im Lichte des Herrn leben." Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, der versammelten Gemeinde tüchtig die Leviten zu lesen. Am Ende der Woche sehnte sich die gesamte Stadt nur noch danach, George möglichst schnell loszuwerden. Der Bürgermeister telefonierte persönlich mit dem Bischof. „Sie müssen diesen Mann hier wieder wegholen. Das ist ja ein Wahnsinniger." „Was hat er denn getan?" „Er tut so, als wären wir alle Kriminelle. Alle lügen mal ein bißchen, stehlen mal eine Kleinigkeit, betrügen dann und wann ein klein wenig, gehen mal mit einer anderen Frau nebenhinaus oder kippen sich gelegentlich einen hinter die Binde. Aber wenn wir dann zur Beichte gehen und es diesem George gestehen, dann haben wir hinterher das Gefühl, daß wir nur noch Selbstmord begehen können. Sie müssen uns von dem Mann befreien. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie deprimiert wir alle sind." Der Bischof bestellte George zu sich. George war über diese Ehre ganz begeistert. Der Bischof sagte: „Setze dich, mein Sohn. Wie macht sich denn deine Priesterschaft so?" „Ganz ausgezeichnet!" sagte George. „Ich wußte ja gar nicht, wie viele Seelen es zu retten gilt. Aber ich werde sie alle retten." „Meinst du nicht, George", fragte der Bischof vorsichtig, „daß du vielleicht ein bißchen zu streng mit deinen Pfarrkindern umgehst?" „Zu streng? Ich tue das Werk des Herrn! Ich werde sogar noch strenger werden! Ich werde ihnen solange im Genick sitzen, bis auch nicht eine Sünde mehr in dieser Stadt übrig ist." Der Bischof sah George nachdenklich an und wußte jetzt, warum ihn niemand ausstehen konnte. „Ich denke, mein Sohn, ich werde dich in eine kleinere Stadt versetzen", sagte er. George blickte überrascht auf. „Warum?" „In kleinen Städten", sagte der Bischof taktvoll, „gibt es auch mehr Sünden. Sie brauchen mehr Hilfe." Da hellte sich Georges Gesicht wieder auf. „Ah ja, gut! Wann fange ich an?" „Auf der Stelle", sagte der Bischof und dachte kurz nach. „Da gibt es eine kleine Stadt oben in Maine. Die Pfarrei dort hat zwar nur hundert Pfarrkinder, aber sie braucht einen Priester. Dorthin schicke ich dich." „Danke", sagte George. „Ich werde alles tun, um die Leute zu erretten." Schon nach einer Woche bekam der Bischof auch einen Anruf vom Bürgermeister dieser kleinen Stadt in Maine. „Der Priester, den Sie uns geschickt haben, ist ein Wahnsinniger! Holen Sie den nur ja schnell wieder weg!" Der Bischof sagte: „Was hat er denn getan?" „Wir gehen die Woche über beichten, und er erzählt am Sonntag bei der Predigt alles, was wir gebeichtet haben! Schaffen Sie ihn weg!" Der Bischof schickte erneut nach George. „George", fragte er ihn, „liebst du deinen Beruf?" „O ja!" versicherte George. „Ich hatte keine Ahnung, wie viele Sünder es auf dieser Welt gibt, und ich werde nicht rasten und ruhen, bevor ich nicht auch den letzten Sünder errettet habe." Jetzt war auch dem Bischof endgültig klar, daß er es bei George mit einem hoffnungslosen Fall zu tun hatte. „George, mein Sohn", sagte er, „ich glaube, ich habe eine bessere Verwendung für dich als in dieser kleinen Stadt in Maine. Wir haben da eine Gemeinde in einem kleinen Dorf in Afrika." „In Afrika?" sagte George stirnrunzelnd. Der Bischof sagte: „Dort gibt es eine Menge Sünde!" Georges Gesicht hellte sich auf. „Ach so!" „Ich schicke dich dorthin zusammen mit einem halben Dutzend weiterer Priester der Afrikahilfe. Jeder von euch bekommt eine Pfarrei in einem anderen Dorf." George stand auf und sagte stolz: „Ich bin bereit." „Gut", sagte der Bischof."Dein Flugzeug geht in zwei Tagen. Bis dahin kannst du noch einmal nach Hause." „Ich freue mich auf meine Arbeit in Afrika", sagte George. „Nur eines betrübt mich." „Was denn?" „Wie sehr meine Pfarrkinder hier mich vermissen werden." George fuhr nach Hause, um sich auf die Reise nach Afrika vorzubereiten. Sein Vater sah gerade einen Pornofilm im Fernsehen an. George sah es voller Ungläubigkeit, griff sich einen Hammer und zertrümmerte das Fernsehgerät. „Was hast du getan?" schrie sein Vater. „Deine Seele vom Teufel errettet!" entgegnete George. „Oder hast du nicht gesehen, was der Mann und die Frau da gemacht haben?" „Na selbstverständlich habe ich es gesehen", sagte sein Vater. „Was glaubst du, weshalb ich es anschaue? Was für ein Mann bist du eigentlich?" „Ich bin mehr als ein Mann", erklärte George. „Ich bin Priester!" „Na schön, du Priester, dann kannst du die Reparatur meines Fernsehers bezahlen. Wann reist du nach Afrika ab?" „Morgen", sagte George glücklich. „Gut!" sagte sein Vater noch glücklicher. George traf sich voller Stolz mit den anderen sechs Priestern am Flughafen. Alle waren sehr aufgeregt und gespannt auf ihre neue Aufgabe. „Viele dieser armen Leute dort haben nicht genug zu essen." „Zahlreiche sind krank und haben keine Ärzte, die sie behandeln." „Sie haben unter einer Diktatur zu leiden und sind nicht frei." George aber sagte: „Hätten sie nicht die Zwölf Gebote gebrochen, wäre ihnen das alles nicht widerfahren. Sie sind alle Sünder." Die anderen Priester starrten ihn an. Als sie das Flugzeug bestiegen, fand sich George bereits abseits und allein sitzend. Sie flogen in einem heftigen Gewitter über die Berge am Kilimandscharo und waren noch zwei Stunden von ihrem Zielort entfernt, als ein plötzlicher Blitzeinschlag ihr Flugzeug durch die Luft taumeln ließ. „Was ist passiert?" fragte einer der Priester. Das Flugzeug begann zur Erde zu stürzen. „Wir stürzen ab", sagte einer der anderen Priester. George aber erhob seine Stimme: „Ihr wollt Priester sein und habt keinen Glauben? Natürlich wird Gott uns nicht abstürzen lassen." Zwei Minuten später waren sie abgestürzt. Das Flugzeug war in die Bäume gekracht und kam schließlich zum Stehen. Die Passagiere waren arg zerzaust, aber niemand war tot. Sie waren in einer abgelegenen Ecke des afrikanischen Dschungels in einem Kannibalengebiet heruntergekommen. Die Kannibalen hatten noch nie ein Flugzeug gesehen. Sie sahen in Furcht erstarrt zu, wie der Riesenvogel vom Himmel fiel. Die einzige Begegnung, die sie bisher mit einem Weißen gehabt hatten, war ein Forschungsreisender gewesen, den sie dann verspeisten, aber das war schon viele Jahre her. Er hatte ihnen zuvor noch etwas Englisch beigebracht. „Gott ist gekommen", sagte ihr Häuptling. Sie beobachteten, wie die sieben Priester aus dem Flugzeug herauskamen. Sie wußten aber, nur einer von ihnen konnte Gott sein. Die anderen mußten seine Diener sein. Als die Priester die Eingeborenen erblickten, waren sie hocherfreut. George sprach zu ihnen: „Wir sind gekommen, meine Kinder, eure Seelen zu erretten. Deshalb hat Gott uns verschont. Wenn ihr uns ein Bett für die Nacht geben und uns morgen früh aus diesem Dschungel hier hinausführen wolltet, wären wir euch sehr verbunden." Die Eingeborenen starrten ihn an. Der Häuptling winkte ihm. „Komm." Die Priester folgten den Eingeborenen in deren winziges Dorf aus Grashütten. „Wir sind hungrig", sagte George. „Wir auch", sagte der Häuptling und wandte sich an seine Leute: „Bindet sie." Und so fanden sich die Priester zu ihrer Überraschung an Händen und Füßen gefesselt. Auf einem Dreifuß stand ein großer Kessel, in dem Wasser kochte. Der Häuptling befühlte ihre Arme und Beine und' freute sich: „Ah, gutes Essen." „Was reden Sie denn?" wollte George streng wissen. „Ich verlange, daß Sie uns auf der Stelle alle wieder freilassen!" Der Häuptling aber spuckte ihm nur ins Gesicht. „Du hältst den Mund, ja?" Er sah sich um. „Einer von euch ist der vom Himmel gekommene Gott und der soll uns führen und schützen. Die anderen essen wir." „Ich erhebe Einspruch", sagte George. „Wir sind amerikanische Staatsbürger und -" „Maul halten", wiederholte der Häuptling und spuckte ihn erneut an. Dann wandte er sich an den nächsten Priester. „Bist du der Gott, der gekommen ist, uns zu erretten?" „Natürlich nicht", sagte der Priester. „Ich bin nur ein einfacher Mensch, der -" „Gut. Kochen!" Die anderen Priester sahen mit Entsetzen zu, wie sie ihren Kollegen packten und in den großen, kochenden Kessel warfen. Seine Schreie waren schrecklich. „Hören Sie mal", sagte George. „Sie glauben doch nicht, daß Sie damit durchkommen. Wir -" „Maul halten." Der Häuptling spuckte und wandte sich dem nächsten Priester zu. „Bist du Gott?" „Nein." „Kochen!" Und so ging es weiter die Reihe durch. Jeden Priester fragte der Häuptling,. ob er Gott sei, und alle waren sie nicht bereit, das erste und zweite Gebot zu brechen: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben, und Du sollst den Namen Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen. Als auch der letzte zugab, nicht Gott zu sein, wurde er ebenfalls in den Kochkessel geworfen. Jetzt war nur noch George übrig. „Bist du Gott?" fragte der Kannibalenhäuptling auch ihn. George hatte sich die Todesschreie seiner sechs Kollegen anhören müssen. Er wollte zwar das erste und zweite Gebot nicht übertreten, aber andererseits auch nicht das Abendessen dieser Wilden werden. „Ja", sagte er also, „ich bin Gott." Alle Eingeborenen verbeugten sich tief vor ihm. Sie schnitten seine Fesseln durch und kleideten ihn in ein prächtiges Stammesgewand. Der Häuptling sagte: „Du sollst für immer hier bei uns leben und uns beschützen." Und George bekam drei schöne Frauen, die bei ihm schliefen und ihm Nahrung aus dem Urwald und Obst von den Bäumen brachten. Den Rest seines Lebens verbrachte er froh und glücklich und wurde wie ein König behandelt. Das ist die Geschichte von dem Mann, der nicht nur eines, sondern gleich zwei Gebote übertrat. 3. KAPITEL DAS DRITTE GEBOT: DU SOLLST DEN FEIERTAG HEILIGEN. Nun, was bedeutet das? Es bedeutet, man soll am Sonntag ruhen, an Gott denken und keine Geschäfte betreiben. Dies aber ist die Geschichte von Ralph, einem Mann, der das dritte Gebot brach und damit sehr reich wurde. Ralph war der glückloseste Mann auf der ganzen Welt. Was er auch anpackte, ging schief. Er war ein guter Mensch, fleißig, ehrlich und anständig. Er war sehr verliebt gewesen in eine Frau, die dann mit seinem besten Freund durchging und diesen heiratete. Mit anderen, Worten, er hatte damit zugleich am selben Tag sein Mädchen und seinen besten Freund verloren. Eine Woche später überfuhr er seinen Hund, und noch ein paar Tage darauf starb seine Katze. Er arbeitete in einer Fabrik, die bankrott machte. Danach arbeitete er in einem Textilgeschäft, das abbrannte. Ist jetzt allmählich klar, warum ich sage, er war der glückloseste Mensch auf Gottes weiter Welt? Es war gerade, als hätte Gott es auf den armen Ralph speziell abgesehen, um ihn für irgend etwas zu strafen. Weil er kein Geld hatte, lebte Ralph bei seinen Eltern. Die waren sehr fromm. Sie glaubten an Gott und daran, daß man von ihm bestraft wurde, wenn man eines seiner Gebote übertrat. Und weil ihr Sohn ein solcher Pechvogel war, waren sie davon überzeugt, daß das nur daher kommen konnte, daß er die Gebote brach. Eines Tages rief ihn sein Vater in die Bibliothek. „Ralph, es ist nicht anders möglich, du tust offenbar Falsches und Schlechtes. Ich habe noch keinen Menschen gesehen, der so glücklos in seinem Leben ist wie du. Übertrittst du denn eines der Gebote?" „Nein, Vater." „Bist du dessen auch sicher?' Nehmen wir doch einfach gleich das erste Gebot: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Brichst du dieses Gebot?" „Nein, Vater." „Gut. Reden wir dann vom zweiten Gebot: Du sollst den Namen Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen. Hast du das jemals getan, geflucht?" „0 nein, Vater." „Dann das dritte Gebot. Heiligst du den Feiertag?" „Aber natürlich", sagte Ralph. „Jeden Sonntag gehe ich in die Kirche, und ich spiele am Sonntag nie und gehe auch nicht ins Kino oder tue sonst etwas, außer an Gott zu denken." Sein Vater nickte. „Und nun das vierte Gebot: Ehrst du Vater und Mutter?" „Aber ja doch", bekräftigte Ralph. „Ich ehre euch alle beide." „Das fünfte Gebot", sagte sein Vater. „Du sollst nicht töten. Du hast doch wohl noch niemanden getötet, oder?" „Aber Vater", sagte Ralph indigniert, „als würde ich jemals im Traum daran denken, jemanden zu töten!" „Gut", sagte Ralphs Vater, „ich weiß, daß du die Wahrheit sagst, aber irgendwas mußt du falsch machen, sonst hättest du doch nicht dauernd soviel Pech! Wie steht es denn mit dem sechsten Gebot: Du sollst nicht ehebrechen? Na, das kannst du ja wohl nicht gebrochen haben, nachdem du gar nicht verheiratet bist." Ralph dachte an seine Freundin und wie er sie verloren hatte. „Nein", bekräftigte er traurig, „bin ich nicht." „Und was ist mit dem siebten Gebot, Du sollst nicht stehlen?" fragte der Vater unerbittlich weiter. „Ich bin sehr ehrlich", antwortete Ralph."Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts gestohlen." „Ich glaube es dir", sagte sein Vater. „Aber warum hast du dann soviel Pech?" „Ich habe keine Erklärung dafür", sagte Ralph. „Und das achte Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Wie steht es damit? Hast du je wider einen unserer Nachbarn falsches Zeugnis gegeben?" „Niemals", schwor Ralph. Seinem Vater wurde alles noch rätselhafter. „Und was ist mit dem neunten Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus und Hab und Gut?" Ralph war total überrascht. „Aber Vater, das Haus unseres Nachbarn ist eine heruntergekommene Bruchbude. Was sollte ich denn da begehren? Da drinnen möchte ich nicht mal wohnen." „Und das zehnte Gebot: Du sollst dir kein Bildnis von mir machen?" „Ich hab keinen Schimmer, wie man schnitzt oder bildhauert", sagte Ralph. „Ich glaube dir, mein Sohn", sagte der Vater. „Wie aber steht es mit dem elften Gebot, Du sollst nicht lügen?" „Ich sagte dir doch, Vater, daß ich nie lüge." „Nun gut, mein Sohn. Und was ist mit dem zwölften Gebot, Du sollst deinen Mitmenschen kein leid zufügen? Bist du manchmal in Schlägereien verwickelt?" „Vater, wo ich doch keiner Fliege etwas zuleide tun kann! Ich weiß ja nicht einmal, wie man sich prügelt." Ralphs Vater war nach diesem Gespräch nicht klüger als zuvor. Er war fest überzeugt, daß sein Sohn keines von Gottes Geboten gebrochen hatte. Vielleicht, dachte er, war Ralph auch nur in der Vergangenheit ein Pechvogel, und es ändert sich von nun an, weil er ja alle Gebote einhält und befolgt. Da muß er doch jetzt allmählich mehr Glück haben. Aber da irrte er sich. Am nächsten Tag schüttete eine Serviererin Ralph, als er beim Essen in einem Restaurant saß, kochend heißen Kaffee über die Hand und verbrühte sie ihm. Ralph mußte in die Notaufnahme im Krankenhaus gebracht werden. Dort rutschte er auf dem glattgebohnerten und gerade frisch gewachsten Boden im Korridor aus und brach sich ein Bein. Man legte ihn auf eine Bahre und trug ihn in ein Zimmer. Dort ließ der Pfleger die Bahre fallen und Ralph brach sich auch noch einen Arm. Zwei Wochen lang lag er im Krankenhaus. Als er wieder heimkam, hatte er ein Gipsbein, einen Gipsarm, und seine Hand war auch noch immer verbunden. Sein Vater war ganz verzweifelt und ging zu seinem Pfarrer. „Warum verfolgt meinen Sohn derart das Pech?" fragte er ihn. Und er erzählte dem Priester alle Mißgeschicke, die Ralph schon widerfahren waren. Aber auch der Pfarrer schüttelte nur den Kopf. „Ich kann mir nichts anderes denken, als daß er eben eines von Gottes Geboten bricht." „Nein", widersprach Ralphs Vater, „das kann nicht sein. Er hält jedes einzelne sorgsamst ein." Der Pfarrer schüttelte noch einmal den Kopf. „Dann weiß ich auch keine Antwort." Das Problem war, daß niemand eine Antwort wußte. Es stand in der Bibel geschrieben, wenn man alle Zwölf Gebote befolgte, konnte man ein glückliches und friedvolles Leben führen. Und was war? Da befolgte einer schon mal aufs Genaueste alle Zwölf Gebote, aber sein Leben war elend und mies von vorne bis hinten! Jeden Sonntag bestanden Ralphs Eltern darauf, daß er, obwohl nach wie vor in Gips und auf Krücken, aufstand und mit ihnen in die Kirche ging. „Wir möchten nicht", sagte seine Mutter, „daß Gott zornig auf dich wird." „Zornig auf mich!" höhnte Ralph. „Ich bin doch schon die ganze Zeit sein Sandsack!" „Aber, aber! Sprich nicht so, mein Sohn! Und jetzt stehe auf und komme mit uns zur Kirche." Ralph hatte Schmerzen und fühlte sich überhaupt total schlecht, aber er gedachte des Gebots, daß man Vater und Mutter ehren muß, damit man lange lebe und es einem wohlergehe auf Erden, und kleidete sich in Gottes Namen an und kam mit zur Kirche. Dort saß er und hatte solche Schmerzen, daß er kaum wahrnahm, was der Pfarrer alles predigte. Aber er gelobte: „Ich werde so lange jedes einzelne Gebot einhalten, bis diese Pechsträhne endlich einmal aufhört." Zwei Monate später waren Ralphs Arm und Bein verheilt, und auch den Verband von der verbrühten Hand konnte man entfernen. Er konnte wieder zur seinem Arbeitsplatz zurückkehren, einem Videoladen. Er kam zur Tür herein und sagte: „Da bin ich wieder." Aber der Geschäftsinhaber sagte: „Sie haben zu lange gefehlt, da mußte ich jemanden anderen einstellen. Sie sind entlassen." Das war wiederum noch längst nicht alles. Als er nach Hause zurückkam, fand er den kleinen Garten, den er angelegt hatte und sehr liebte, von irgendeinem Tier verwüstet. Am Abend, als er zum Essen ausgegangen war, wurde ihm sein Auto gestohlen. Das bemerkte er allerdings erst drei Tage später, weil der Fisch, den er in der Gaststätte gegessen hatte, nicht mehr gut gewesen war und man ihn mit einer Fischvergiftung in ein Krankenhaus bringen und ihm den Magen auspumpen mußte. Seine Eltern besuchten ihn. „Was wird als nächstes passieren?" weinte seine Mutter. „Es kann nichts mehr passieren", sagte Ralph. „Von jetzt an kann es nur noch besser werden, alles." Er verließ das Krankenhaus zwei Tage darauf, und als er die Straße überquerte, fuhr ihn ein Bus an. „Jetzt ist es eindeutig!" rief sein Vater. „Du tust etwas, was Gott nicht gefällt!" Sie gingen wieder alle Zwölf Gebote durch, konnten aber nichts finden, wogegen Ralph sich verging. „Du mußt es einfach intensiver versuchen", sagte der Vater. Aber Ralph hatte es inzwischen satt. „Nein. Ich habe es jetzt lange genug intensiv versucht. Von nun an ist mir egal, was Gott mir antut." Sein Vater war schockiert. „Sage so etwas nicht!" Er schickte einen Blick zum Himmel hinauf. „Der Blitz wird auf dich herabfahren." „Das wäre auch das einzige", antwortete Ralph, „was Gott mir noch nicht angetan hat." Er blieb die ganze Woche zu Hause und weigerte sich, auszugehen, um Arbeit zu suchen. „Wozu?" sagte er. „Ihr wißt doch genau, wie glücklos ich bin. Ich finde ja doch keine Arbeit, und auf dem Weg wird mich mit Sicherheit ein Auto überfahren." Ralphs Vater wußte nichts zu entgegnen. Er war jetzt selbst überzeugt davon, daß sein Sohn recht hatte. Am Sonntagmorgen sagte Ralphs Mutter: „Stehe auf, mein Schatz, es ist Zeit für die Kirche." „Ich will nicht zur Kirche gehen." „Was soll das heißen, du willst nicht zur Kirche gehen? Wir gehen doch jeden Sonntag zur Kirche!" „Und was hat es mir genützt?" sagte Ralph. „Ich bleibe heute zu Hause." „Du kannst nicht zu Hause bleiben", erklärte ihm sein Vater. „Das dritte Gebot sagt -" „Ja, ich weiß, was im dritten Gebot steht. Du sollst den Feiertag heiligen. Aber es ist mir egal. Ich bleibe heute den ganzen Tag im Bett." Und nichts, was sie sagten, konnte ihn dazu bringen, seine Meinung zu ändern. Schweren Herzens gingen Ralphs Eltern ohne ihn zur Kirche. „Das wirst du noch bereuen", warnte ihn sein Vater allerdings. „Schreckliche Dinge können geschehen, wenn man eines der Gebote bricht." Aber Ralph sagte einfach nur: „Sollen sie doch geschehen. Ich fürchte mich nicht davor." Er sah seinen Eltern nach, wie sie. das Haus verließen. Ich hätte schon mitgehen sollen, dachte er mit Schuldgefühlen. Tatsache war, daß er durchaus etwas nervös darüber war, das dritte Gebot zu brechen. Stets war er bisher am Sonntag zur Kirche gegangen. Er merkte, daß er einfach zu unruhig war, um im Bett zu bleiben. Vielleicht gehe ich ein wenig spazieren, dachte er. Wollen doch mal sehen, was für Knochen ich mir heute brechen werde. Er zog sich an und ging los. Es war ein schöner Frühlingsmorgen. Die Luft war frisch und klar. Er ging die Straße entlang und sah sich ständig nervös um, weil er darauf wartete, was ihm denn nun zustoßen werde, jetzt, wo er so offen das dritte Gebot übertrat. Er stolperte über etwas und dachte: Aha, geht schon los. Doch als er auf den Gehsteig hinunterblickte, sah er, daß er über eine Brieftasche gestolpert war, die jemand verloren hatte. Neugierig hob er sie auf und schaute hinein. Die Brieftasche war voller Hundertdollarscheine. Aber es stand kein Name und keine Adresse in der Brieftasche. Ralph war ein ehrlicher Mensch und hätte sie zurückgegeben, wenn er nur gewußt hätte, wem und wohin. Er zählte das Geld. Es waren fünftausend Dollar. Er konnte nicht glauben, was er für ein Glück hatte. Es war das allererste Mal, solange er denken konnte, daß er tatsächlich Glück hatte. Er steckte die Brieftasche ein und ging weiter. An der nächsten Ecke war ein Zeitschriftenladen, in dem auch Sofortlose der Lotterie verkauft wurden. Man kaufte ein Los, riß es auf, und es kam eine Nummer zum Vorschein. Der Ladenbesitzer sagte zu Ralph: „Es sind neue Lotterielose herausgekommen. Möchten Sie vielleicht welche kaufen?" Ralph zögerte. Er spielte niemals, schon, weil er sowieso verlor. Jetzt jedoch hatte er eine Brieftasche voller Geld und sagte: „Also gut, ich kaufe zehn." Er kaufte die zehn Lose, und der Ladenbesitzer sah zu, wie er das erste aufriß und auf die Nummer schaute. „Das ist ein Gewinnlos!" sagte der Mann. „Hundert Dollar." Ralph riß das nächste Los auf. „Noch ein Gewinn! Zweihundert Dollar!" Jedes seiner zehn Lose gewann. Weder er noch der Ladenbesitzer konnten es recht glauben. „Also, so etwas von Glückspilz wie Sie habe ich noch nicht erlebt", sagte der Mann zu Ralph. Ralph hatte jetzt alle Taschen mit Geld vollgestopft. Und er dachte: Soviel Glück habe ich im ganzen Leben noch nicht gehabt. Wenn ich aber jetzt in der Kirche wäre, hätte das alles hier nicht passieren können. Er kam am Büro einer Fluglinie vorbei. Spontan ging er hinein. „Ich möchte einen Hin- und Rückflug nach Las Vegas, bitte." Er bezahlte das Flugticket gleich in bar, damit er auf jeden Fall schon seinen Rückflug sicher hatte, falls er alles Geld in Las Vegas beim Spielen verlor. Der Flug dauerte zwei Stunden. Ralph war noch nie zuvor in Las Vegas gewesen. Als er am Flughafen ankam, war er überrascht, daß es schon dort Hunderte von Spielautomaten gab. Er nahm einige Münzen und steckte sie in einige dieser Automaten. Und die spuckten alsbald Geld für ihn aus. Er nahm sich ein Taxi zu einem der Hotels. Der Spielsaal war voller Leute, die alle mit Karten spielten oder mit Würfeln oder an den Spielautomaten. Er setzte sich auf einen freien Platz an einem Spieltisch. „Entschuldigen Sie", sagte er zu dem Angestellten, „kann ich hier spielen?" „Selbstverständlich, ja. Haben Sie Geld?" Ralph holte sein Bargeld aus der Tasche und zeigte es her. Das Gesicht des Angestellten hellte sich sofort auf. „Aber natürlich, Sir! Kommen Sie hierher. Ein neuer Shooter kommt sofort. Wieviel möchten Sie denn setzen?" Ralph hatte noch nie im Leben gespielt. Er hatte keine Ahnung, was „ein neuer Shooter" bedeutete. (Es bedeutete, daß es um den gesamten Einsatz ging.) „Ich setze tausend Dollar", sagte er. Der Mann gab ihm einige Chips und zeigte tausend Dollar auf seiner Tafel an. Er warf eine Sieben. Vor Ralph häufte sich nun ein Stapel im Wert von zweitausend Dollar. „Heißt das, ich habe tausend Dollar gewonnen?" fragte Ralph. „Richtig. Wollen Sie sie stehen lassen?" Ralph hatte auch keine Ahnung, was „stehen lassen" bedeutete, aber er sagte einfach: „Sicher." Der Mann warf die Würfel wieder, und sie ergaben eine Elf. Jetzt stapelten sich schon Chips für viertausend Dollar vor Ralph. Wollen Sie die noch einmal stehen lassen?" „Dieses Würfelspiel gefällt mir", sagte Ralph. „Ja." Kurz, in der folgenden Stunde gewann Ralph über hunderttausend Dollar. Es war, als könnte er nichts falsch machen. Wie er auch setzte, gerade oder krumm oder aufs ganze Feld, er gewann jedesmal. Einer der Geschäftsführer des Casinos kam und sagte zu Ralph: „Sir, wir haben einen privaten Spielsaal, wo die Einsätze höher sind. Wenn Sie dort gerne spielen möchten?" Nun war es dem Casino-Geschäftsführer jedoch in Wirklichkeit ziemlich egal, ob Ralph dort gerne spielen wollte oder nicht. Ihm ging es nur darum, daß Ralph in das Spiel mit den höheren Einsätzen einstieg, damit das Casino eine Chance hatte, das an ihn verlorene Geld wiederzubekommen. „Klingt gut", sagte Ralph. Er folgte dem Casino-Geschäftsführer in das Hinterzimmer, wo ein Dutzend sehr wohlhabend aussehender Männer Poker spielten. Ralph, der ja kein Spieler war, hatte noch nie im Leben Poker gespielt und hatte nicht die blasseste Ahnung, wie es ging. Aber er setzte sich an den Spieltisch. „Das Ante ist fünftausend Dollar", sagte der Geber. „Was ist ein Ante?" Die anderen Spieler lachten. Sie dachten, Ralph machte einen Scherz. „Das ist das Geld, das man vor jedem Spiel herauslegt." „Aha", sagte Ralph und legte die erforderlichen fünftausend Dollar auf den Tisch. Das Spiel begann. Und Ralph war noch erfolgreicher als zuvor am Würfeltisch. Was er auch machte, er verlor nicht. Einer der Spieler legte seine Karten offen. „Ich habe zwei Asse hier." Und er griff schon nach dem Einsatz. „Augenblick", sagte Ralph. „Ich habe drei Damen." Und das zählte mehr. Bei der nächsten Runde sagte ein Spieler: „Ich habe ein Full House" „Entschuldigung", sagte Ralph, „aber ich habe einen Royal Flush." Ein Royal Flush, das sind fünf aufeinanderfolgende Karten derselben Farbe, ist höher als ein Full Hause (das sind drei Karten von derselben Farbe und dazu zwei von einer anderen). So gewann er Spiel um Spiel und konnte einfach nichts falsch machen. Hatte ein anderer Spieler ein schwaches Blatt, dann er ein starkes. Hatte ein anderer ein starkes Blatt, dann er ein noch stärkeres. Als er schließlich aufhörte, besaß er zweihunderttausend Dollar in bar. Er. ging davon wie in Trance und wunderte sich, was da mit ihm passiert war. Er ging in die Cafeteria des Hotels. Eine Bedienung kam und fragte: „Was kann ich für Sie tun?" Er blickte hoch und sah sich dem schönsten Mädchen gegenüber, das er im Leben je gesehen hatte. Sie war jung und blond und so hübsch, daß ihm fast das Herz stehenblieb. Sie hatte eine enganliegende Uniform an und eine tolle Figur. „Ich - ja ...", brachte Ralph gerade noch heraus. Er studierte die Karte. „Ach, ich nehme das Haschee." Die Bedienung sah sich um, ob auch niemand in der Nähe war, und flüsterte ihm dann zu: „Nehmen Sie es nicht. Es ist nicht frisch. Aber die gebratenen Nudeln sind sehr gut." „Oh, danke", sagte Ralph, „gut, dann geben Sie mir die gebratenen Nudeln." Er sah ihr nach, wie sie davon ging, und konnte den Blick nicht mehr von ihr wenden. Und sie hatte recht gehabt. Die Nudeln waren köstlich. Als er Geld aus der Tasche holte, um zu bezahlen, und sie sah, wieviel er hatte, sagte sie: „Oh, das sollten Sie aber nicht tun, soviel Geld mit sich herumtragen. Da nimmt es Ihnen schnell einer ab. Lassen Sie sich doch von der Kasse einen Scheck auf den Betrag geben, dann ist Ihr Geld sicher." „Das ist sehr freundlich von Ihnen", sagte Ralph, „Frau.. " „Fräulein. Miss Sally Morgan." „Auch ich bin nicht verheiratet", sagte Ralph. Sie lächelte ihn an. „Dann hat irgendein Mädchen bisher eine großartige Gelegenheit versäumt. Ich wette, Sie geben einen wundervollen Ehemann ab." „Und ich wette", sagte Ralph, „daß auch Sie eine wundervolle Ehefrau abgeben würden. Wann sind Sie hier fertig?" „Um sechs." „Darf ich auf Sie warten?" Sie lächelte. „Gerne." Ralph wartete also, bis ihre Arbeitszeit zu Ende war. Dann führte er sie zum Essen aus, und sie redeten und redeten miteinander, und es war, als hätten sie sich schon immer gekannt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sally war das liebste und wundervollste Mädchen, das Ralph je erlebt hatte. „Jetzt kennen wir uns erst ein paar Stunden", sagte er, „und doch, auch wenn es verrückt klingt, möchte ich dich schon heiraten." Und Sally nickte. „Auch wenn es noch verrückter klingt, aber ich sage Ja. Ich wußte vom ersten Augenblick an, wo ich dich sah, daß ich dich liebe." Ralph umarmte sie und sagte: „Dann wollen wir doch gleich einen Priester suchen." In Las Vegas gibt es kleine Kirchen, in denen Tag und Nacht Trauungen vorgenommen werden. In einer davon heirateten Ralph und Sally. „Jetzt fahren wir nach Hause", sagte Ralph. „Und ich stelle dich meinen Eltern vor." Ralphs Eltern waren schon völlig aufgelöst gewesen. Als sie von der Kirche zurückgekommen waren, war ihr Sohn verschwunden. Es war fast Mitternacht, als er wiederkam, und bei sich hatte er ein wunderschönes junges Mädchen. „Ich stelle euch hiermit meine Frau vor", sagte Ralph. Sie wußten nicht, wie ihnen geschah. „Deine Frau? Wie kannst du dich verheiraten? Du besitzt doch keinen Cent! Und wir unterstützen dich nicht." „Braucht ihr auch gar nicht", sagte Ralph. Und er zeigte ihnen seinen Scheck über zweihunderttausend Dollar. „Seht ihr das? Ich fange mein eigenes Geschäft an, und es wird sehr erfolgreich sein." Und er fing sein eigenes Geschäft an, und es wurde sehr erfolgreich. Auch Sally erwies sich als großartige Ehefrau. Fortan war Ralphs Leben einfach perfekt. Absolut perfekt. Und das alles, weil er das dritte Gebot gebrochen hatte. 4. KAPITEL DAS VIERTE GEBOT: DU SOLLST VATER UND MUTTER EHREN/AUF DASS ES DIR WOHLERGEHE UND DU LANGE LEBEST AUF ERDEN. Edward war Waise. Als er ein neugeborenes Baby in Philadelphia war, warf ihn seine Mutter in die Mülltonne, damit er dort starb. Zum Glück aber fand ihn, ein Polizist, der ihn weinen hörte, holte ihn heraus und brachte ihn eilends in ein Krankenhaus, wo man ihn gerade noch rettete. Niemand wußte, wo seine Mutter oder wer sein Vater war. Den einzigen Hinweis gab die Decke, in die er eingewickelt gewesen war und auf der der Name EDWARD BIXBY geschrieben stand. Die Polizei versuchte, die Eltern zu finden, um sie wegen versuchten Mordes zu belangen, aber ohne Erfolg. Edward wurde also in ein Waisenhaus gesteckt, wo er aufwuchs. Doch es war ein sehr hartes Leben. Nie gab es genug zu essen, und die anderen Waisenkinder in dem Heim waren gemein und niederträchtig zu ihm. Ab und zu kam ein Priester und sprach mit ihnen. Und er brachte ihnen die Zwölf Gebote bei. Als das vierte an der Reihe war, verwirrte dies Edward einigermaßen. Wie sollte er Vater und Mutter ehren, wenn er keine blasse Ahnung hatte, wer und wo sie waren? Als er siebzehn Jahre alt war, ließ ihn die Waisenhausdirektorin in ihr Büro kommen. „Edward", sagte sie, „morgen ist dein siebzehnter Geburtstag." „Ja, Frau Direktor." „In unserem Waisenhaus gilt die Regel, daß Kinder über siebzehn nicht mehr bei uns bleiben können. Wir müssen dich also jetzt in die Welt hinausschicken." Nun hatten die meisten Kinder Angst vor diesem Tag, an dem sie in die Welt hinausgeschickt wurden, von der sie überhaupt nichts wußten und kannten. Aber nicht so Edward. Im Gegenteil, er war sehr aufgeregt und gespannt. Der Grund dafür war, daß er sich seinen lebenslangen Traum erfüllen konnte: nach seinen Eltern zu suchen und sie zu finden. „Du warst ein guter und anständiger Junge, Edward. Wir sind stolz auf dich und werden dich hier vermissen." „Sie werden mir auch fehlen", log Edward. Denn in Wirklichkeit konnte er es kaum erwarten, daß er endlich fort durfte. Am nächsten Tag verabschiedete Edward sich von allen und machte sich auf, seine Eltern zu suchen. Aber er wußte schon, daß es nicht leicht sein würde. Zuerst suchte er den Priester auf. „Ich möchte ja meinen Vater und meine Mutter ehren", sagte er, „aber das kann ich nicht, weil ich nicht weiß, wer und wo sie sind. Können Sie mir da helfen?" Der Priester dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. „Das wird sehr schwierig sein, Edward", sagte er. „Niemand hat sie je gesehen." „Hat sie denn nicht jemand gesehen, wie sie mich zum Waisenhaus gebracht haben?" fragte Edward. Der Priester beschloß, Edward sei alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. „Sie haben dich nicht ins Waisenhaus gebracht. Sie haben dich in eine Mülltonne geworfen. Dort hat dich ein Polizist gefunden und ins Krankenhaus gebracht." Edward starrte ihn an. „In eine Mülltonne? Sie haben mich in eine Mülltonne geworfen und wollten mich dort sterben lassen?" „So war es wohl, ja." Edward war völlig schockiert. „Sicher war das nur, weil sie keine Möglichkeit hatten, dich zu behalten", versuchte ihn der Priester zu trösten. „Vermutlich waren sie sehr arm." Aha, also sehr arm waren sie. Zumindest wußte Edward schon mal dies über sie. „Man hat mir gesagt, mein Name war in meine Decke eingenäht. Edward Bixby." „Ja, das stimmt. Die Polizei hat lange gesucht, um deine Eltern zu finden, aber vergeblich." „Ich finde sie", erklärte Edward entschlossen:"Und wenn es das letzte ist, was ich tue. Aber ich finde sie." Er begann mit seiner Suche. Als erstes schaute er im Telefonbuch nach, ob es darin Leute mit dem Namen Bixby gab. Es standen ein halbes Dutzend Bixby darin. Der erste Bixby war ein Arzt. Ich wette, dachte Edward, das ist mein Vater. Er war wahrscheinlich damals sehr arm und hatte kein Geld, um mich zu behalten. Aber jetzt wird er sich freuen, mich zu sehen. Er ging in die Praxis des Arztes. „Ich möchte zu Dr. Bixby." „Haben Sie einen Termin?" „Nein", sagte Edward, „aber er wird sich freuen, mich zu sehen. Sagen Sie ihm, sein Sohn ist da." Die Arzthelferin starrte ihn an. „Sein Sohn?" „Ja", sagte Edward. „Augenblick." Die Arzthelferin verschwand im Sprechzimmer. Im nächsten Augenblick kam der Doktor heraus. Er war sehr groß und sah gut aus, aber er war ein Farbiger. Edward stand da wie angewurzelt. „Sie wollten zu mir?" fragte der Arzt. Edward schluckte. „Äh nein, Sir, ich. " ich glaube doch nicht. Auf Wiedersehen." Er flüchtete. Der nächste Bixby auf seiner Liste wohnte in einem Haus am Stadtrand. Es war ein schönes Haus, und Edward merkte, wie sein Herz schneller zu klopfen begann. Der Besitzer eines solchen Hauses mußte reich sein. Das müssen meine Eltern sein, dachte er. Sie waren arm, als ich auf die Welt kam, aber jetzt haben sie Geld, und wahrscheinlich haben sie schon nach mir gesucht. Er klingelte an der Haustür. Ein Hausmädchen in Personalkleidung öffnete. „Ja, bitte?" „Ja ...", sagte Edward, „... ich bin hier, um meine Mutter zu besuchen." Das Hausmädchen starrte ihn an. „Ihre Mutter?" „ Ja. Mrs. Bixby. Ich bin Edward Bixby." „Sind Sie sicher, daß Sie an der richtigen Adresse sind?" fragte das Hausmädchen unsicher. „Ganz sicher", sagte Edward. Er wußte tief im Herzen, daß er hier richtig war. „Augenblick", sagte das Hausmädchen, „ich hole Mrs. Bixby." Edward wartete aufgeregt. Endlich würde er seiner Mutter von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Kurz danach erschien eine junge Frau. Sie mochte an die fünfundzwanzig sein. „Sie wollten mich sprechen?" fragte sie. „Nein, Madame, ich möchte Mrs. Bixby sprechen." „Ich bin Mrs. Bixby." Edward starrte sie verständnislos an. „Das kann nicht sein. Ich meine Sie sind zu jung, um meine Mutter zu sein!" „Das würde ich auch annehmen", sagte die Frau. „Sie meinen, Sie wissen nicht, wer Ihre Mutter ist?" „Nein", sagte Edward, „aber ich finde sie schon." Er suchte auch alle anderen Bixby-Adressen aus dem Telefonbuch auf, aber er hatte kein Glück. Entweder waren sie zu jung oder zu alt oder hatten die falsche Hautfarbe. Aber veranlaßte dies Edward, aufzugeben? Absolut nicht! Im Gegenteil, er war nun noch entschlossener denn je, seine Eltern zu finden, damit er sie ehren konnte. Er begann im ganzen Land herumzureisen und in allen möglichen Städten nachzuforschen. Überall schaute er ins Telefonbuch und suchte den Namen Bixby. In Florida hatte Edward schließlich Glück. Dort stand im Telefonbuch der Name Edward Bixby. Sein Herz begann heftig zu klopfen. Wahrscheinlich hatte ihm sein Vater seinen eigenen Namen gegeben. Er begab sich zu der Adresse, die im Telefonbuch stand. Es war ein riesiges Haus auf einem großen Grundstück. Edward klingelte. Die Tür ging auf, und ein Butler sagte: „Ja, bitte?" „Tag", sagte Edward."Ich möchte zu Mr. Bixby." „Treten Sie näher", sagte der Butler. Edward trat in die riesige Eingangshalle. Gleich darauf erschien ein grauhaariger und elegant aussehender Mann. „Guten Tag", sagte er, „was kann ich für Sie tun, junger Mann?" „Ich suche nach meinen Eltern", sagte Edward. Der Mann musterte ihn kurz. „Kommen Sie mit, wir gehen in die Bibliothek." Dort setzten sie sich, und Edward erzählte Mr. Bixby seine Geschichte. Als er fertig war, sagte der alte Mann: „Ja, ich hatte einen Sohn namens Edward, aber der kam bei einem Flugzeugabsturz um. Seitdem bin ich allein." Er beugte sich zu Edward vor und sagte: „Du gefällst mir, Junge. Ich habe keinerlei Angehörige mehr. Möchtest du vielleicht den Platz meines Sohnes einnehmen ?" Edward dachte darüber nach. Es bedeutete, daß er hier in diesem schönen Haus leben könnte und viel Geld hätte. Aber es war nicht das, was er eigentlich wollte. Er wollte seine richtigen Eltern finden. „Vielen Dank", sagte er. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich muß meine Suche fortsetzen." Mr. Bixby nickte. „Das verstehe ich. Viel Glück." In Washington fand Edward im Telefonbuch einen General Bixby. Er suchte ihn in seinem Büro auf. Eine Sekretärin im Vorzimmer fragte: „Kann ich Ihnen helfen?" „Ja. Ich möchte zu meinem Vater." Die Sekretärin schien nicht weiter überrascht zu sein. „Kleinen Moment, bitte." Sie sagte in die Sprechanlage: „Ihr Sohn ist hier, Herr General, und möchte Sie sprechen." Die Stimme des Generals dröhnte: „Soll reinkommen!" Edward ging hinein. Hinter dem Schreibtisch saß ein grauhaariger Mann mit einem Schnurrbart. „Wer sind Sie?" fragte er. „Edward Bixby." „Guten Tag, mein Sohn. Willkommen." Also habe ich ihn nun doch endlich gefunden, dachte Edward. Sein Herz klopfte wild. „Guten Tag, Vater. Danke." „Setz dich." Edward setzte sich in den Sessel vor dem Schreibtisch. „So, also lernen wir uns nun endlich kennen." „Ja, Sir." „Und wie geht es deiner Mutter?" erkundigte sich der General. „Meiner Mutter? Ich ... ich weiß nichts von ihr, gar nichts." „War sie diese Französin? Oder die Italienerin?" „Ich verstehe nicht", sagte Edward. „Als ich im Krieg und danach in Europa war", sagte der General, „war ich in vielen Ländern stationiert, und da kannte ich viele Frauen. Es gibt vermutlich Kinder von mir in Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Rumänien und Ungarn. Es ist ganz einfach, herauszufinden, wer deine Mutter war. Welche von diesen Sprachen sprichst du?" Edward starrte ihn an. „Gar keine." „Was denn? Du bist in keinem von diesen Ländern aufgewachsen?" „Nein", sagte Edward. „Dann bist du auch nicht mein Sohn", stellte der General kühl fest. „Sondern ein Hochstapler. Scher dich hinaus!" Edward war am Boden zerstört, aber er blieb eisern entschlossen, seinen Vater und seine Mutter zu finden, damit er sie ehren konnte. Eines Abends vergaß er, wie deprimiert er war, und ging ins Kino. Im Vorspann des Films tauchte ein Name „Alan Bixby" auf. Edward war sofort wieder elektrisiert. Der Schauspieler, den er dann sah, glich ihm fast aufs Haar. Er hatte das gleiche Kinn, die gleiche Nase und den gleichen Mund wie er. Das ist mein Vater, dachte er. Endlich habe ich ihn gefunden. Gleich am nächsten Morgen reiste er nach Hollywood, fand heraus, bei welcher Filmgesellschaft Alan Bixby arbeitete und ging dorthin. Aber der Pförtner wollte ihn nicht hineinlassen. „Mr. Bixby empfängt keine Besuche", sagte er. „Mich schon", erklärte Edward. „Er ist mein Vater." Da wurde der Pförtner sofort freundlich. „Das tut mir leid, das ist natürlich etwas anderes", sagte er. „Ich sage ihm Bescheid, Augenblick." Gleich danach wurde Edward zu Alan Bixbys Garderobe geführt. Bixby war gerade dabei, sich zu schminken. Er hatte einen purpurroten Seidenmorgenrock an. „Mein lieber Junge", sagte er, „was kann ich für dich tun?" In natura klang seine Stimme sehr viel schriller und höher als auf der Kinoleinwand. „Ich glaube, ich bin dein Sohn", sagte Edward. Der Schauspieler musterte ihn kurz und sagte dann: „Wie nett. Das kann gut sein." Edward war begeistert. „Überall, Vater, habe ich nach dir gesucht." Der Schauspieler sagte munter: „Wie schön. Und jetzt hast du mich gefunden." „Ja." Alan Bixby sah auf die Uhr. „Ich muß in ein paar Minuten die nächste Szene drehen, aber du kannst es dir ja inzwischen bequem machen. Sobald ich fertig bin heute nachmittag, nehme ich dich mit zu mir nach Hause. Gefällt dir das?" „O ja, natürlich!" sagte Edward glücklich. „Wir werden uns prächtig amüsieren miteinander", versprach ihm Alan Bixby. Die Tür ging auf, und ein junger Mann kam herein. Er hatte Lidschatten auf den Augen und küßte Alan Bixby auf den Mund. „Tag, Liebling." „Du bist spät dran", beklagte sich Alan Bixby. „Du schlimmer, schlimmer Junge!" Edward traute seinen Augen nicht. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, daß Alan Bixby ganz bestimmt noch nie ein Kind gezeugt hatte. Der Schauspieler wandte sich an ihn. „Also, ich muß jetzt los, aber warte hier, bis ich wiederkomme." Doch als Alan Bixby wiederkam, war Edward längst fort. Zum erstenmal begann Edward das Gefühl zu haben, daß er wohl doch niemals an sein Ziel gelangen werde. Jetzt war er schon kreuz und quer durchs Land gezogen, aber er hatte keine Spur von seinem Vater und seiner Mutter gefunden. Und dann kam ihm doch unerwartet das Schicksal zu Hilfe. Er saß in einer Gaststätte beim Essen, als er am Nebentisch Stimmen hörte. Er wandte sich um und sah hin. An dem Tisch saß ein halbes Dutzend Männer. Sie wirkten wie rauhe Gesellen und redeten ungeniert und laut. Einer sagte: „Dann haben sie mich eingebuchtet, aber sie konnten mir nichts nachweisen. Bixby hat schon recht gehabt, das Ding war bombensicher." Als Edward den Namen Bixby hörte, riß es ihn, und er beugte sich weit vor, um besser zu hören. „Die Beute von dem Ding muß uns eine coole halbe Million gebracht haben. Und die Bankleute haben gar nicht recht mitgekriegt, wie ihnen geschah." Edward lauschte angestrengt, aber der Name Bixby fiel nicht mehr. Als die Männer fertiggegessen hatten und sich zum Gehen anschickten, eilte Edward an ihren Tisch. „Entschuldigung", sagte er zu dem Mann, der die meiste Zeit geredet hatte, „könnte ich Sie wohl einen Augenblick sprechen?" Der Mann war groß und sah gefährlich aus. „Nein", sagte er und ging. „Warten Sie doch", rief Edward verzweifelt. „Sie haben den Namen Bixby erwähnt." Der Mann fixierte ihn. „Und?" „Ich heiße auch Bixby", sagte Edward. „Das kann schon sein." „Ich suche meinen Vater, wissen Sie", sagte Edward drängend. „Ich dachte mir, daß der Mann, von dem Sie gesprochen haben, vielleicht mein Vater ist." „Zweipistolen-Bixby dein Vater? Junge, du hast sie nicht alle." „Ich weiß ja, daß es weit hergeholt scheint", räumte Edward ein, „aber sehen Sie, es war so, meine Mutter und mein Vater ließen mich vor achtzehn Jahren im Waisenhaus." (Er wollte nicht gleich zugeben, daß sie ihn in eine Mülltonne geworfen hatten.) Der große Kerl musterte ihn eindringlich. „Vor achtzehn Jahren?" Er wandte sich an seine Kumpane. „War das nicht vor achtzehn Jahren, als Zweipistolen und Molly einen Bankert hatten?" „Ja", sagte einer. „Den haben sie dann irgendwo liegen lassen." Der Große sah Edward nun mit anderen Augen an. „Und woher weißt du, daß du Bixby heißt?" fragte er. „Weil man mich in eine Decke eingewickelt fand, in der dieser Name stand." „O Gott", sagte der Große, „ich glaube fast, wir haben tatsächlich den Bankert von Zweipistole vor uns." „Sind meine Mutter und mein Vater noch am Leben?" fragte Edward eifrig. „Ja, sind sie. Wenn ich mir dich so anschaue, könnte es glatt sein, daß du von deinem Vater die Nase und von deiner Mutter die Augen hast." Edward konnte sein Glück nicht fassen. Da hatte er am Ende doch noch seine Eltern gefunden! Und konnte sie nun ehren. „Könnten Sie mich wohl zu ihnen bringen?" fragte er. Der Große zögerte. „Ich weiß nicht recht", sagte er. „Vielleicht zeige ich dir besser erst mal ein Foto von ihnen." Edward nickte eifrig. „O ja, bitte." Der Große wandte sich an die anderen. „Geht schon mal voraus. Ich komme später. Und sorgt dafür, daß der Wächter erst ausgeschaltet ist, bevor ihr reingeht." Edward war nicht so ganz klar, wovon da die Rede war. Der Große wandte sich wieder ihm zu. „Na los, komm." Zu Edwards Überraschung führte ihn der Mann in ein Postamt. „Arbeitet mein Vater denn bei der Post?" fragte Edward. Da lachte der Große. „Nein." Er führte ihn zu einer Wand, an der Steckbriefe hingen. Dazwischen war auch einer von einem Mann und einer Frau. Und darunter stand ein Text. Edward „Zweipistole" Bixby und Molly Bixby, gesucht in sieben Staaten wegen Mordes und in zehn Staaten wegen Raubüberfällen auf Postämter. 250000 Dollar Belohnung. Edward stand wie angewurzelt vor dem Plakat. „Das sind deine Mutter und dein Vater", sagte der Große. „Willst du sie jetzt immer noch sehen?" Edward schluckte nervös. „Aber natürlich." „Na gut, meinetwegen, dann bringe ich dich jetzt zu ihrem Versteck." Das Versteck war eine Hütte in den Bergen. Als der Große mit Edward ankam, machte ein Mann die Tür auf, dessen Foto Edward in dem Postamt gesehen hatte. Er hielt eine Pistole in der Hand. „Wen zum Teufel schleppst du denn da an?" sagte er zu dem Großen. „Deinen Sohn, glaube ich." „Meinen was?" Zweipistole starrte Edward verwundert an. „Wie heißt du?" „Edward." „Wie alt bist du?" „Achtzehn." „Vor langer Zeit habe ich mal gesehen, daß die Bullen dich gefunden und in ein Waisenhaus gebracht haben. Stimmt das?" „Ja, ganz genau. Dieses Jahr bin ich dort ausgeschieden." „Da kriegst du doch die Tür nicht zu", sagte Zweipistole und klopfte Edward auf die Schulter. „Na, dann willkommen, Sohn. Komm rein." Aus einem anderen Raum kam Molly. Sie war fett und häßlich, und ihre Haare waren schmutzig und zerzaust. Und betrunken war sie obendrein. „Wer ist'n das?" wollte sie wissen. „Unser Bankert", sagte Edwards Vater. Das Wiedersehen war nicht unbedingt so, wie Edward es sich die ganze Zeit über vorgestellt hatte, aber immerhin hatte er seine wirklichen Eltern gefunden, und er wußte, ganz gleich, wer und wie sie waren, daß sie ihn damals ausgesetzt hatten, weil sie dazu gezwungen waren. Wahrscheinlich waren sie auf der Flucht vor der Polizei gewesen und in Gefahr und wollten nicht, daß ihrem Kind etwas passierte. Indem sie ihn verließen, brachten sie sicher ein großes Opfer. Also war Edward bereit, sie zu lieben und zu ehren, wie es die Bibel verlangte. „Ich kann mir denken, wie schwer es für euch gewesen sein muß", sagte er zu ihnen, „mich auszusetzen. Es muß ein großes Opfer für euch gewesen sein, mich aufzugeben und -" „Was war es?" platzte seine Mutter lachend heraus. „Ein Opfer? Dir geht's wohl nicht gut, was? Junge, ein Unfall warst du, sonst nichts. Ich wollte dich von Anfang an nicht haben. Und deshalb habe ich dich gleich nach der Geburt in die nächste Mülltonne abgeladen. Was willst du hier? Kommst hier angetanzt und fällst uns auf den Wecker!" „Wahrscheinlich will er Geld", sagte Zweipistole. „Nein, nein", sagte Edward, „ich habe euch nur überall gesucht, weil ich meine Mutter und meinen Vater kennenlernen wollte." „Na gut, jetzt hast du sie kennengelernt", sagte seine Mutter. „Und jetzt kannst du wieder abzischen. Und laß uns in Zukunft in Ruhe." Zweipistole wandte sich an den Großen. „Schaff ihn weg." Edwards gesamte Welt brach zusammen. Jetzt hatte er endlich, endlich seine Eltern ausfindig gemacht und versuchte das vierte Gebot zu befolgen, und was hatte er davon? Gar nichts. Nun ja, nicht so ganz. Denn nachdem er die Hütte verlassen hatte, ging er zurück zu dem Postamt und sagte den Leuten, wo Zweipistole und Molly sich versteckt hielten. Und kassierte die Viertelmillion Belohnung dafür. Damit ging er nach Frankreich und führte dort fortan das schönste Leben. 5. KAPITEL DAS FÜNFTE GEBOT: DU SOLLST NICHT TÖTEN. Roger Jones war ein frommer Mann. Er war sogar sehr fromm. Er ging jeden Sonntag in die Kirche und befolgte alle Zwölf Gebote. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, jemals eines zu übertreten, ganz besonders nicht das sechste: Du sollst nicht töten. Das heißt, er hätte niemals im Traum daran gedacht zu töten -bis er verheiratet war. Seine Frau Louise war sehr nett. Sie liebte Roger, und Roger liebte sie. Das Problem in seiner Ehe war nicht Louise. Sondern ihre Mutter. Seine Schwiegermutter hieß Sarah, und sie war der allerunmöglichste Mensch, den Roger je erlebt hatte. Sarah hatte nicht gewollt, daß ihre Tochter Roger heiratete. Sie hatte vielmehr gewollt, daß ihre Tochter einen bedeutenden Mann heiratete, und das war Roger nicht. Am Tag ihrer Hochzeit sagte Sarah zu ihrer Tochter: „Ich habe es mir überlegt und werde zu euch ziehen. Ich will sichergehen, daß Roger dich auch gut behandelt." Roger war nicht glücklich über diese Neuigkeit. „Wir haben doch nur ein kleines Häuschen", sagte er. „Wo sollen wir sie da denn unterbringen ?" „Wir geben ihr das Gästezimmer", sagte Louise. Noch am selben Nachmittag zog seine Schwiegermutter Sarah ein. Sie warf einen Blick in das Gästezimmer und sagte: „Das ist zu klein für mich. Ich nehme das große Schlafzimmer." „Und wo schlafen wir?" fragte Roger. „Im Gästezimmer", sagte Sarah. Das war erst der Anfang. Rogers Schwiegermutter kritisierte buchstäblich alles, was er tat. Beim Frühstück sagte sie: „Du solltest keine Eier mit Speck essen. Das ist ungesund für dich." „Aber ich mag Eier mit Speck." „Von jetzt an", sagte Sarah, „wirst du nur gesunde Speisen essen." Und Roger bekam nie mehr Eier mit Speck. Sarah gefiel auch nicht, wie sich Roger anzog. „Von jetzt an gehst du im dunklen Anzug ins Büro und mit Hemd und Krawatte." „Aber alle kleiden sich bei uns leger", sagte Roger. „Keiner trägt Krawatten." „Aber du wirst sie tragen", entschied Sarah. Also ging Roger fortan mit weißem Hemd und Krawatte ins Büro. Als sich Roger eines Abends einen Scotch mit Soda genehmigte, sagte Sarah: „Ab sofort wird in diesem Haus nicht mehr getrunken." Und sie schaffte sämtliche Flaschen mit Alkohol fort. Das war noch lange nicht das Schlimmste. Sarah wurde nicht müde, ihrer Tochter unaufhörlich vorzuwerfen, was für eine schlechte Wahl sie doch getroffen habe. „Du hättest leicht einen heiraten können, der besser aussieht und reicher ist und bedeutender." „Aber ich liebe Roger", sagte Louise. „Ach, du weißt doch gar nicht, was Liebe ist, Kind. Ich muß einen besseren Mann für dich finden." „Was redest du denn da, Mutter? Ich bin mit Roger verheiratet." „Na und? Man kann sich scheiden lassen", sagte ihre Mutter. „Ich will mich aber nicht scheiden lassen." „Papperlapapp. Das werden wir schon sehen." Sobald Roger aus dem Büro nach Hause kam, begann seine Schwiegermutter, an ihm herumzunörgeln. „Warum verdienst du nicht mehr Geld?" fragte sie. „Ich habe doch ein gutes Gehalt. Louise und ich sind ganz zufrieden." „Aber ich nicht! Ich möchte in einem größeren Haus wohnen. Du solltest dir überlegen, ob du nicht eine andere Stellung brauchst." „Ich will keine andere", sagte Roger. „Mir gefällt es da, wo ich bin." „Weil du nichts anderes kennst", nölte seine Schwiegermutter. Keinen Moment lang ließ Sarah die beiden allein. Immer war sie da und redete und redete, und sie hatten keinen Augenblick ihre Ruhe. Louise war genauso unglücklich über alles wie Roger. „Wir sollten sie vielleicht doch überreden, daß sie wieder auszieht", sagte Roger. „Das kann ich nicht machen, Schatz. Sie ist schließlich meine Mutter." „Dann laß es mich wenigstens versuchen", sagte Roger. Er ging zu Sarah. „Was würdest du davon halten", fragte er, „eine eigene Wohnung für dich allein zu haben? Ich bezahle gerne die Miete dafür." Sarah schüttelte heftig den Kopf. „Nein, nein, nein, kommt gar nicht in Frage. Ich bleibe hier, wo ich ein Auge auf meine Tochter haben kann. Sie braucht mich." „Sie ist ein erwachsener Mensch", wandte Roger ein. „Sie braucht dich nicht mehr." „Das zu beurteilen, überlasse mir!" Als Roger zu dem Urteil gelangt war, nun könne es nicht mehr schlimmer werden, wurde es erst recht schlimm. Er hatte seinen Chef zum Essen eingeladen. Roger war stolz auf seine Kochkünste und wollte dieses Essen selbst zubereiten. Er machte eine wundervolle Gemüsesuppe, einen Hackbraten mit Kartoffelbrei und backte einen Apfelkuchen. Er war sehr zufrieden mit seinem Essen. Sein Chef kam pünktlich. Er sah sich um und sagte: „Da haben Sie aber ein hübsches Haus, Roger." „Es ist zu klein", sagte Sarah. „Jetzt wäre etwas zu trinken recht", sagte der Chef. „Es tut mir leid", antwortete Roger, „aber wir haben keine Alkoholika im Haus." Der Chef zeigte sich überrascht. „Was?" „Es ist angerichtet", erklärte Roger. „Darf ich zu Tisch bitten." Louise servierte, was Roger gekocht hatte. Es begann mit der Suppe. Der Chef probierte sie. „Ganz köstlich." „Sie ist zu salzig", beschwerte sich Sarah. „Roger salzt alles, was er macht, viel zuviel.." Der nächste Gang war der Hackbraten mit dem Kartoffelbrei. „Das ist wirklich der beste Hackbraten, den ich je gegessen habe", sagte der Chef. „Dann wissen Sie aber nichts über gutes Essen", sagte Sarah. „Es schmeckt doch scheußlich." „Der Kartoffelbrei ist sehr gut." „Er ist viel zu klumpig." So ging es das ganze Essen hindurch. Sarah machte einfach alles herunter. Ich bringe sie um, dachte Roger. Und er erschrak über seinen eigenen Gedanken. Töten verstieß doch gegen das Fünfte Gebot. Und trotzdem... Jeden Nachmittag ging Sarah aus und kaufte Sachen ein, Kleider und Taschen und Schals und Schuhe, und gab eine Menge Geld dafür aus. Das wäre Roger an sich egal gewesen, wenn sie nicht alles von seinem Geld bezahlt hätte. Sein Bankkonto schmolz immer mehr zusammen. Er stellte sie schließlich zur Rede. „Du hast in letzter Zeit viel Geld ausgegeben", sagte er, „und - „Was denn, du willst dich beschweren? Hat meine Tochter einen Geizhals geheiratet? Kann ich mir nicht einmal ein paar kleine Freuden im Leben erlauben?" „Selbstverständlich doch", sagte Roger. „Ich wollte auch nicht „Nun, dann sprich auch gefälligst nie wieder über Geld mit mir! Ich habe meine Tochter ja davor gewarnt, dich zu heiraten, du Pfennigfuchser!" Roger sprach mit seiner Frau darüber. „Es ist kaum noch etwas auf unserem Sparkonto übrig", sagte er. „Deine Mutter gibt alles Geld aus." „Schatz, Mutter ist eine alte Frau. Laß ihr doch ihr Vergnügen." „Alte Frau? Die überlebt uns noch beide!" entfuhr es Roger zornig."Die bringt nichts um. Die könntest du in einen Löwenkäfig schicken, und als nächstes wäre der Löwe tot. Sie würde ihn totreden!" „Das ist aber nicht nett, Roger. Sie ist doch meine Mutter!" Roger liebte seine Frau sehr und hatte sich auf eine glückliche Ehe mit ihr gefreut, aber seine Schwiegermutter hatte die Hölle aus ihrer Ehe gemacht. Das Faß zum Überlaufen brachte schließlich der Samstagabend, an dem Sarah sagte: „Ich habe jemand zum Essen bei uns eingeladen." Roger versuchte freundlich zu sein. „Ist in Ordnung", sagte er. „Kennen wir sie?" „Es ist ein Mann", erklärte Sarah. Der Gast kam um sieben Uhr. Er war groß und sehr reich und sah gut aus. „Das ist meine Tochter Louise", sagte Sarah zu ihm. Und vergaß einfach, auch Roger vorzustellen. Roger hielt dem Mann seine Hand hin. „Ich bin Roger." „Guten Tag, Roger. Ich heiße Ken." Ken sah Louise an. „Sie sind keinen Hauch weniger hübsch, als Ihre Mutter Sie beschrieben hat." „Ken ist nicht verheiratet", sagte Sarah. Roger begriff plötzlich. Sie hatte diesen Mann für Louise eingeladen! Das ganze Essen hindurch redeten Louise und Ken miteinander. „Ich besitze eine große Spedition", sagte Ken. „Und ich verdiene eine Million im Jahr. Das einzige Problem ist, daß ich keine Herzensdame habe, mit der ich das ganze Geld teilen könnte." Und er sah zu Roger hin. „Sie aber haben wirklich Glück." „Ja", sagte Roger, „das habe ich." Und, dachte er im stillen dazu, ich gedenke es auch zu behalten. „Ken liebt die Oper", sagte Sarah. „Und du doch auch, Louise, nicht? Aber Roger mag keine Opern." Sie sah Roger an. „Ken hat Opernkarten für nächsten Mittwoch. Wäre es nicht nett, wenn er Louise mitnähme?" Was sollte Roger dazu sagen? „Aber sicher", sagte er, doch mit zusammengebissenen Zähnen. „Dann ist es abgemacht", sagte Sarah. „Ihr beide geht zusammen aus und macht euch einen netten Abend." Roger hätte sie umbringen können. Umbringen, da ist das Wort schon wieder, erschrak er. Zumal es diesmal nicht mehr nur einfach ein Wort war. Aber jetzt war ihm klar, daß er noch nie jemanden so sehr gehaßt hatte. Sie zerstörte ihm seine Ehe! Als Ken gegangen war, sagte Roger: „Sarah, ich habe nachgedacht. Es wäre wirklich am besten, wenn du in eine Wohnung für dich allein ziehen würdest." Sarah sah ihm direkt in die Augen und sagte: „Kommt nicht in Frage. Abgesehen davon, daß ich nicht überrascht wäre, wenn Louise sich von dir scheiden ließe und Ken heiratete. Dann könnte ich zu ihnen ziehen." Noch in dieser Nacht beschloß Roger, das Gift zu kaufen. Am nächsten Morgen begab sich Roger in einen Drugstore. „Ich habe da so Schwierigkeiten mit meinen Pflanzen", sagte er. „Führen Sie Arsen?" „Ja", sagte der Drogist, „aber Sie müssen unterschreiben." „Schon gut." Roger hatte sich entschlossen. Seine Schwiegermutter mußte sterben, und wenn er selbst dafür auf den elektrischen Stuhl wanderte. Sie war die böseste Person, die er je gekannt hatte. Er steckte das Arsen in die Tasche und ging am Abend, als Louise und Sarah im Eßzimmer saßen, in die Küche, um ihnen Kaffee zu holen. Er schüttete sorgfältig das Arsen in die Tasse seiner Schwiegermutter und rührte um. Dann kam er zurück ins Eßzimmer. „Hier." Er stellte die vergiftete Tasse seiner Schwiegermutter hin. „Hat lange genug gedauert", nörgelte sie. Sie trank einen kleinen Schluck und beschwerte sich: „Schmeckt bitter." „Es ist eine neue Marke", sagte Roger. „Na, dann nimm wieder die alte." Er sah zu, wie sie noch einen Schluck trank, und dann noch einen. Dafür gehe ich gerne ins Gefängnis, dachte er. Dafür gehe ich sogar auf den elektrischen Stuhl. Wen kümmert es noch. Es ist es wert, wenn man dafür dieses Ungeheuer los wird. Er tat in dieser Nacht kein Auge zu. Er stellte sich vor, wie es am Morgen wäre. Louise fand ihre Mutter tot im Bett und kam schreiend zu ihm gelaufen. Dann kam die Polizei, und es gab eine Autopsie. Dabei entdeckten sie das Arsen und fanden heraus, daß er es gekauft hatte. „Haben Sie Ihre Schwiegermutter vergiftet?" würde man ihn bei der Polizei fragen. „Jawohl", würde er sagen. Und seine Strafe wie ein Mann entgegennehmen. Am nächsten Morgen sah Roger zu, wie Louise aufstand und sich anzog. Jeden Moment nun, dachte er, geht sie ins Zimmer zu ihrer Mutter und entdeckt, was passiert ist. Bis dahin tue ich so, als wäre gar nichts. Er stand ebenfalls auf, zog sich an und ging ins Eßzimmer. Da saß Sarah bereits am Tisch. „Du kommst schon wieder zu spät", keifte sie. „Ich mag es nicht, wenn ich warten muß." Roger traute seinen Augen nicht. Er hatte doch selbst gesehen, wie sie den vergifteten Kaffee trank! „Ich habe fürchterlich schlecht geschlafen", sagte Sarah. „Ich hatte entsetzliches Kopfweh." Sie ist eine Hexe, dachte Roger. Ich muß mir etwas anderes ausdenken. Roger war sehr geschickt mit elektrischen Sachen. An diesem Abend, als Sarah ausgegangen war, ging er in ihr Bad und entfernte die Isolierung vom Kabel ihrer Bettlampe, so daß sie einen tödlichen Stromschlag bekommen mußte, wenn sie sie anschaltete. Er blieb die ganze Nacht auf und wartete auf Sarahs Schrei, wenn der Stromschlag sie durchfuhr. Er hörte, wie Sarah in ihr Zimmer ging und die Türe zumachte. Er setzte sich auf. Aber er hörte nichts. Wahrscheinlich ist sie schon tot, dachte er. Am Morgen stand er auf, zog sich an und ging ins Eßzimmer. Am Tisch saß Sarah und zeterte sogleich wieder los.. „Dieses Haus beginnt auseinanderzufallen", sagte sie. „Die Isolierung meiner Bettlampe war kaputt, und ich mußte das Kabel reparieren." Roger war sprachlos. „Scheußlich, die Krawatte, die du umhast", sagte Sarah. Nimm eine andere." Ich halte es nicht mehr aus, dachte Roger. Am nächsten Tag schlüpfte Roger mitten in der Nacht heimlich aus dem Bett und schlich sich in das große Schlafzimmer, in dem Sarah schlief. Er hatte ein Kissen in der Hand, beugte sich über das Bett und drückte es auf Sarahs Gesicht, bis sie nicht mehr atmete. So, jetzt habe ich einen Mord begangen, dachte er bei sich. Ich habe das Fünfte Gebot gebrochen. Du sollst nicht töten. Ich werde dafür bestraft werden, aber das war es wert. Er kehrte in sein Bett zurück und schlief zum erstenmal seit Wochen wieder tief und fest. Als er am Morgen erwachte, fühlte er sich großartig. Er wußte, etwas Bedeutsames hatte sich ereignet. Dann erst erinnerte er sich, was es war. Er hatte seine Schwiegermutter umgebracht! Er zog sich an, lächelte fröhlich und ging ins Eßzimmer hinüber. Am Tisch saß Sarah und wartete. Er stand da wie angewurzelt und glaubte es nicht. „Mein Gott", jammerte Sarah, „hatte ich einen entsetzlichen Traum! Ich träumte, daß mich jemand ersticken wollte!" Es hat keinen Wert, dachte Roger. Gegen die ist kein Kraut gewachsen. Die ist buchstäblich nicht umzubringen. Ich bin verdammt, sie auf ewig ertragen zu müssen. Er ging an diesem Tag sehr deprimiert ins Büro. „Was ist denn mit Ihnen?" fragte ihn sein Chef. „Sie sehen in letzter Zeit sehr unglücklich aus. Haben Sie Kummer und Sorgen?" Was sollte Roger darauf antworten? Er konnte nicht über sein Problem reden. Und etwas dagegen tun konnte er auch nicht. „Nein, nein", versicherte er. „Es ist alles in Ordnung." Dann wurde ihm schlagartig klar, warum er gerade heute so bedrückt war. Heute war Mittwoch, eben der Tag, an dem Louise mit diesem gutaussehenden jungen Millionär, der sich nach einer Frau umsah, in die Oper gehen sollte. Wahrscheinlich, sagte er sich, wird sie ihn mir vorziehen. Sarah hat schon recht. Ich bin nichts, und ich habe nichts, und besonders gut sehe ich auch nicht aus. Vielleicht hat Louise wirklich einen Fehler gemacht, als sie mich heiratete. Er sah es schon genau vor sich, was passieren würde. Louise würde nach der Oper heimkommen und sagen: „Roger, ich muß dir etwas sagen." „Du brauchst es mir gar nicht erst zu sagen, Louise, ich weiß es auch so." „Ich habe mich in Ken verliebt." „Ich kann es dir nicht verdenken. Er ist besser als ich." „Ich mag dich, Roger, aber Mutter hatte recht. Ich hätte einen Besseren heiraten sollen. Ich verlasse dich noch heute abend. Ken und ich werden unsere Flitterwochen in Paris verbringen." „Kommt deine Mutter mit?" „O nein. Sie will hier bei dir bleiben." Am Abend zog Louise ihr hübschestes Kleid an. „Du machst dir ja nichts aus Opern, nicht, Roger?" fragte sie. „Nein", log Roger. „Aber ich weiß, wie sehr du Opern liebst. Ich wünsche dir viel Vergnügen." „Danke, Liebling!" Und sie küßte ihn. Das war wahrscheinlich das letzte Mal, daß sie mich küßte, dachte Roger. Da klingelte es auch schon an der Tür. Es war Ken, er war in Abendkleidung und sah phantastisch aus. Er gab Roger die Hand. „Vielen Dank, daß Sie mir Ihre Frau ausleihen." „Keine Ursache", sagte Roger. Schon bald wird sie sowieso deine sein. Er sah ihnen nach, wie sie gingen, und das Herz war ihm schwer. „Spül das Geschirr!" kommandierte Sarah. „Ich gehe schlafen.. " Roger spülte das Geschirrt trocknete es ab, putzte die Küche und ging ebenfalls zu Bett. Aber er konnte natürlich nicht schlafen. Er wartete auf Louises Rückkehr und daß sie ihm sagte, es sei zu Ende mit ihrer Ehe. Um elf war sie immer noch nicht da. Und auch um Mitternacht noch nicht. Roger stand auf und lief ruhelos im Flur auf und ab. Endlich, um ein Uhr morgens, kam Louise. „Ich habe Neuigkeiten für dich", sagte sie. Roger wußte, was käme. Ich werde nicht weinen, dachte er. Auf keinen Fall lasse ich mir anmerken, daß sie mir das Herz gebrochen hat. „Fang an", sagte er. Louise legte die Arme um ihm. „Ich habe den langweiligsten Abend meines Lebens hinter mir, kann ich dir sagen. Dieser Ken hat pausenlos gequasselt. Und hinterher, nach der Oper, schleppte er mich noch zu einer sterbensfaden Party." Sie lachte. „Ich will den Kerl nie im Leben wiedersehen, sage ich dir. Du bist der einzige Mann, mit dem ich zusammen sein möchte." Roger glaubte nicht richtig zu hören. Dann stammelte er: „Aber das ist ja wundervoll!" Sarah kam aus ihrem Zimmer. „Werdet ihr zwei endlich still sein? Ich kann nicht schlafen!" Am nächsten Morgen stieg Roger in sein Auto und war wieder ein sehr, sehr glücklicher Mann. Er war dabei, rückwärts aus der Einfahrt hinauszurangieren, als er im Rückspiegel seine Schwiegermutter direkt hinter dem Auto sah. Sie beugte sich gerade hinunter, um die Zeitung aufzuheben. Bis auf diesen Tag ist Roger sich nicht sicher, ob nun sein Fuß abrutschte und irrtümlich auf das Gaspedal trat statt auf die Bremse, oder ob seine unterbewußte Absicht dahinter stand. Sicher ist nur, er fuhr seine Schwiegermutter nieder, und sie war auf der Stelle tot. Die Kirche ist der Ansicht, daß eine Sünde, auch wenn man sie nur im Herzen und in Gedanken begeht, genauso schlimm ist wie die wirkliche Ausführung einer sündigen Tat. Demzufolge hatte Roger bereits gesündigt, als er versuchte, seine Schwiegermutter zu vergiften, mit Strom zu töten und zu ersticken. Also hatte er, so oder so, das Fünfte Gebot gebrochen: Du sollst nicht töten. Die Polizei zeigte sich Roger gegenüber sehr mitfühlend. „Ein ganz tragischer Unfall, kein Zweifel." So kam es, daß Roger und Louise schließlich doch noch allein leben und sich der Million Dollar erfreuen konnten, die Louises Mutter hinterlassen hatte. 6. KAPITEL DAS SECHSTE GEBOT: DU SOLLST NICHT EHEBRECHEN. Joe Smith war ein Gauner. Keiner von den ganz großen Ganoven, nur so ein kleiner Gauner. Seit er zehn Jahre alt war, hatte er es schon mit der Mafia zu tun. Als Jugendlicher besorgte er Botengänge, als er älter. wurde, bekam er dann allmählich Größeres zu tun. Er wurde Eintreiber, also einer von denen, die den Leuten, die nicht rechtzeitig ihre Schulden zurückzahlten, auch schon mal die Hand brachen und dergleichen...Joe gefiel seine Tätigkeit. Er war gern Mitglied der Mafia. Als er siebzehn war, hatte er seine Freundin geschwängert und war gezwungen worden, sie zu heiraten. Aber Tatsache war, daß er sie nicht besonders mochte. Sie war nicht sehr hübsch, und sie war streitsüchtig und kommandierte dauernd herum, aber Joe hatte sie halt nun mal auf dem Hals. Obwohl Joe ein Gangster war, war er dabei doch ziemlich fromm. Niemals hätte er auch nur im Traum daran gedacht, Ehebruch zu begehen und mit der Frau eines anderen Mannes zu schlafen. Der Capo - der Mafia-Chef - war ein gewisser Fred „Eispickel" Bulgatti. „Eispickel" hieß man ihn, weil er seine Opfer tötete, indem er ihnen einen Eispickel zwischen die Ohren hackte. Das ging lautlos und war schmerzhaft. Er war ein Schrank von Mann, über einszweiundachtzig groß, ein Kerl wie ein Gorilla. Man erzählte sich, er sei imstande, einen Mann mit den bloßen Händen auseinanderzureißen. Er war der Schrecken aller. Fred Bulgatti hatte seinerseits eine Ehefrau und drei Kinder, außerdem eine Geliebte, eine gewisse Angela. Diese Angela war aber keineswegs ein Engel. Doch schön war sie. Sie hatte eine sinnliche, sexy Figur und ein Gesicht wie ein Filmstar. Fred konnte den jungen Joe Smith gut leiden. Er sagte zu ihm: „Joe, eines Tages mache ich einen gemachten Mann aus dir." Ein gemachter Mann war jemand, der schon mal jemanden totgemacht hatte. War man erst einmal „gemacht", dann gehörte man auf ewig zur Mafia. Joes größter Ehrgeiz war es denn auch, so ein gemachter Mann zu werden. Alle seine besten Freunde waren gemachte Männer, und die meisten hatten sogar schon mehrere Morde begangen. Joe wollte unbedingt in ihren Kreis aufgenommen werden. Seine Chance kam eines Tages im Sommer, als Fred ihn zu sich in das italienische Restaurant kommen ließ, wo er immer aß. „Joe", sagte er, „hier ist deine große Chance. Wie würde es dir gefallen, ein gemachter Mann zu werden?" Joe war ganz begeistert. „Ich bin bereit", sagte er. „Gut. Irgend so ein ganz Kluger hat meine Angela angerufen und sie um ein Date gebeten. Dem Kerl schneidest du die Finger ab, mit denen er ihre Nummer gewählt hat. Und dann seine Ohren, mit denen er hörte, wie sie Nein sagte. Und dann schießt du ihm in den Mund, mit dem er das Date verlangt hat. Schaffst du das?" „Klar, Chef", sagte Joe und war sehr stolz über den ehrenvollen Auftrag. Fred gab Joe ein Schießeisen und ein Messer. „Da. Und zum Beweis bringst du mir seine Finger und auch die Ohren von dem Kerl. Niemand - niemand - macht sich ungestraft an meine Angela heran." Timothy Brown - oder, wie er später dann immer nur genannt wurde, der arme Timothy Brown - war Versicherungsvertreter. Er war es, der Angela angerufen hatte, um einen Termin mit ihr wegen einer Versicherung zu vereinbaren. Angela, die nicht gerade die Intelligenteste von der Welt war, hatte das total mißverstanden und gedacht, er wolle ein Date mit ihr ausmachen, ein Rendezvous. Und das hatte sie Fred erzählt. Deswegen hatte Fred nach Joe geschickt. Timothy Brown war in seiner Wohnung, als es an der Tür klopfte. Er machte auf. Draußen stand Joe Smith und fragte: „Mr. Brown?" „Ja? Was kann ich für Sie tun?" „Umgekehrt. Ich komme, um Ihnen etwas anzutun. Haben Sie gestern mit einer jungen Dame namens Angela telefoniert?" „Ja, richtig. Wir haben einen Termin ausgemacht. Kommt sie?" „Sie hat mich statt dessen geschickt", sagte Joe. Wir wollen uns die Einzelheiten dessen, was dann geschah, ersparen, weil sonst selbst aus diesen Seiten hier das Blut heraustriefen würde. Kurzum, zwei Stunden später lieferte Joe bei Fred die Finger und Ohren des armen Timothy Brown ab. Fred saß noch immer beim Essen, als Joe ihm diese Trophäen anbrachte. Fred besah sie sich genau und sagte: „Ordentliche Arbeit, Junge. Hast du gut gemacht. Hast du ihn auch in den Mund geschossen?" „Ja, Chef." „Gut. Dann bist du jetzt ein gemachter Mann. Von jetzt an bist du einer von uns." Es war Joes glücklichster Tag in seinem ganzen bisherigen Leben. Fortan war Joe also einer von den Jungs. Er gehörte zur Mafia und war bei Überfällen auf Banken und Tankstellen dabei und beim Verwalten von Spielhallen und Prostituiertenringen, mit einem Wort, er führte ein prächtiges Leben. Leute umbringen, das machte er nur, wenn es unbedingt notwendig war. Aber es machte ihm auch nichts aus. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht erklären konnte, war aber das einzige Gebot, das er niemals übertrat, das sechste: Du sollst nicht ehe- brechen. Die anderen Gangster rund um ihm taten es dauernd, aber Joe rühmte sich der Tatsache, noch niemals mit der Frau eines anderen Mannes geschlafen zu haben. Er prahlte sogar richtig damit, beging aber eben damit einen schweren Fehler. Eines Tages nämlich kam Angela herein und hörte, wie Joe gerade sagte: „Solange ich verheiratet bin, werde ich niemals mit einer anderen Frau .schlafen. Der Herr sagt >Du sollst nicht ehebrechen<. Ich finde, jeder, der das tut, sollte direkt in die Hölle kommen." Angela hörte sich das mit großem Interesse an, weil sie davon überzeugt war, daß es nicht einen einzigen Mann auf der ganzen Welt gab, der sich weigern würde, mit ihr zu schlafen. Tatsächlich war Angela auch so schön, daß sie damit sogar vermutlich recht hatte. „Ich wette", sagte sie zu Joe, „wenn die richtige Frau käme, würdest du schon mit ihr schlafen." Joe war, schockiert. „Niemals!" Mehr brauchte Angela nicht zu hören. Die Sache weckte ihren gesamten Ehrgeiz. Kein Mann kann mir widerstehen, dachte sie, der da schon gar nicht. Und sie beschloß, zu beweisen, daß sie recht hatte. Eines Tages sagte sie zu Fred: „Schatz, ich glaube, es verfolgt mich einer. Ich fühle mich nicht sicher." „Wer?" bellte Fred sofort los. „Den reiße ich in Stücke!" „Ich bin mir nicht sicher", sagte Angela. „Ich habe einfach nur dieses Gefühl, daß da einer hinter mir her ist. Ich würde mich sehr viel besser fühlen, wenn du stets an meiner Seite bleiben würdest." „Du weißt genau", sagte Fred, „daß das nicht geht. Ich muß mich schließlich um meine Geschäfte kümmern." Angela tat eine Weile nachdenklich. „Nun ja, aber vielleicht könntest du einen deiner Jungs zu meinem Schutz abstellen? Das würde mich schon sehr beruhigen." „Klar", sagte Fred, „das geht. Welchen möchtest du denn haben?" Sie tat wieder so, als denke sie lange nach. „Ach, ist ganz egal. Joe Smith würde es schon tun." „In Ordnung. Joe ist ein guter Mann. Ich sage ihm, daß er ein Auge auf dich haben soll." „Danke dir, Liebling. Vielleicht ja nur für eine oder zwei Wochen. Dann hat es der, der da um mich herumspioniert, sicher schon aufgegeben." Am nächsten Morgen ließ Fred sich Joe kommen. „Angela hat da ein kleines Problem", sagte er. „Sie glaubt, es ist einer hinter ihr her. Du wirst auf sie aufpassen und sie beschützen." „Klar, Fred", sagte Joe. „Wird gemacht." „Ich danke dir. Wenn du herauskriegst, was das für ein Kerl ist, dann schnappst du ihn dir und zersäbelst ihn Zentimeter um Zentimeter. Ich will seine Arme, seine Beine und seinen Kopf haben. Ist das klar?" „Völlig klar, Boß. Wird mir ein Vergnügen sein." „Niemand", brüllte Fred, „absolut niemand rührt mir meine Angela an!" Joe begab sich am selben Nachmittag zu Angela. Sie war in der schönen Wohnung, die ihr Fred eingerichtet hatte, und sie hatte nichts an außer einem hauchdünnen und praktisch durchsichtigen Neglige. Joe konnte gar nicht glauben, wie schön sie war. „Komm herein, mein Süßer", sagte Angela. „Wie ich höre, bist du jetzt mein Leibwächter." „Ja," sagte Joe. „Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das ist, der hinter Ihnen her ist?" „Nein. Aber jetzt, wo du da bist, habe ich keine Angst mehr." Sie kam etwas näher. „Wie wäre es mit einem kleinen Drink?" Er schluckte schwer. Er konnte ihr Parfüm riechen, das ihm schier den Kopf vernebelte. „O nein, danke", sagte er. „Wie man mir sagte, gehen Sie heute nachmittag einkaufen." „Ja", sagte Angela. Joe konnte die Augen nicht mehr von Angelas Figur wenden. „Sie... sollten sich dann jetzt besser anziehen." Sie strich ihm mit der Hand über den Arm. „Wenn du das unbedingt willst", schmelzte sie. Joe dachte daran, was Fred zu ihm gesagt hatte: Du schnappst ihn dir und zersäbelst ihn Zentimeter um Zentimeter. „Wir gehen lieber.". „Na gut. Es dauert nur ein paar Minuten." Joe sah ihr nach, wie sie in ihr Schlafzimmer verschwand. Nach einer Weile hörte er sie rufen: „Kannst du mal kommen, bitte?" Joe eilte in das Schlafzimmer. Dort stand Angela, erst halb angezogen. „Mein Reißverschluß klemmt", sagte sie. „Kannst du mir mal helfen?" Er kam zu ihr. Ihr Rücken war völlig nackt. Und es war der aufregendste Rücken, den er je gesehen hatte. Er war stark in Versuchung, ihn zu küssen, doch er riß sich zusammen, weil er sich gerade noch rechtzeitig sagte, daß er keinen Wert darauf legte, von Fred seine eigenen Lippen abgeschnitten zu bekommen. Er machte den Reißverschluß zu. „Danke", sagte Angela. Angela begann an ihrem Plan mit Joe zu arbeiten. Und wenn Angela einmal an einem Mann zu arbeiten begann, gab es in dieser Hinsicht keine Bessere als sie. Zuerst kamen diese versteckten Hinweise darauf, wie einsam sie doch sei. Dann redete sie davon, wie gemein Fred Bulgatti zu ihr war und wie gut Joe aussah. Sie forderte Joe auf, sie in ihrer Wohnung abzuholen, ließ dann die Tür unverschlossen, und wenn er hereinkam, rief sie ihm zu, daß sie im Schlafzimmer sei, und dort fand er sie splitternackt vor. Er rannte sofort hastig ins Wohnzimmer zurück. Die ganze Situation war viel zu verführerisch. Und viel zu gefährlich. Joe hatte zwei Probleme damit. Erstens hatte er Angst, daß Gott ihn auf der Stelle tot umfallen ließe, wenn er das sechste Gebot übertrat. Und zweitens wußte er positiv und absolut, daß Fred ihn zu Hackfleisch verarbeitete, wenn er Angela auch nur anfaßte. Andererseits wandte Angela wirklich alle Tricks an, um Joe zu sich ins Bett zu kriegen. Die Frage war also: wer würde gewinnen? Die Antwort war natürlich furchtbar einfach: Angela selbstverständlich. Fred „Eispickel" Bulgatti saß beim Essen mit Angela. Er fragte: „Na, kommst du gut aus mit Joe?" „Ja, ja", machte Angela achselzuckend, „er ist ganz in Ordnung. Sehr helle ist er nicht, und besonders gut sieht er auch nicht aus." „Soll ich dir vielleicht einen anderen als Leibwächter schicken?" fragte Fred. ."Nein, nein", sagte Angela, „das ist nun auch nicht notwendig. Joe macht seine Sache ja ganz gut." „Denkst du immer noch, es ist einer hinter dir her?" „Da bin ich ganz sicher. Wir haben zwar noch keinen gesehen, aber ich spüre es einfach genau. Jedenfalls fühle ich mich mit Joe sehr viel sicherer." „Gut", sagte Fred. „Dann lasse ich ihn dir noch drei Tage, und dann wechseln wir ihn gegen einen anderen aus. Ich brauche Joe sowieso für eine Sache in Chicago." Drei Tage, dachte Angela. Da muß ich mich jetzt aber beeilen. Am nächsten Morgen rief Angela bei Joe zu Hause an. Joes Frau war am Telefon. „Ist Joe da?" „Wer spricht denn da?" „Hier ist Angela." „Oh, Sie sind das. Sie hatten meinen Mann ja in letzter Zeit viel um sich." Joes Frau machte sich aber nicht wirklich etwas daraus. Sie fand Joe schon seit geraumer Zeit langweilig und hätte alles mögliche getan, nur um ihn loszuwerden. „Augenblick", sagte sie. „Ich hole ihn." Joe kam ans Telefon. „Ja?" Angela sprach mit schwacher Stimme: „Joe, mir geht es nicht gut. Könntest du gleich mal kommen? Ich glaube, ich brauche einen Doktor." „Ja, sicher. Soll ich gleich mal einen Arzt rufen?" „Nein, nein, komm nur erst mal her." „In Ordnung", sagte Joe. „Ich bin gleich da." Er legte auf und sagte zu seiner Frau: „Sie hört sich ja wirklich schlimm an." Fünf Minuten später war er auf dem Weg zu Angela. Als er dort ankam, war die Tür wie üblich offen. Er dachte, daß es doch eigentlich recht seltsam sei, wenn jemand, der Angst vor Verfolgung hatte, die ganze Zeit die Tür nicht absperrte. Er hörte Angelas Stimme aus dem Schlafzimmer. „Ich bin hier, Joe." Er ging hinein. Angela lag im Bett. „Komm her zu mir", sagte sie mit schwacher Stimme. Joe war beunruhigt. Sie klang wirklich besorgniserregend. „Mir ist so heiß", sagte Angela. „Fühl mal meine Stirn." Er kam an ihre Bettseite und legte seine Hand auf ihre Stirn. Sie fühlte sich tatsächlich heiß an. „Sie haben Fieber, glaube ich", sagte Joe. „Ich habe Angst", flüsterte Angela. „Ich mag nicht allein sein, wenn ich krank bin. Fred läßt mich dauernd allein. Er macht sich nicht wirklich etwas aus mir:" „Das dürfen Sie nicht sagen", widersprach Joe. „Das tut er sehr wohl." Er hätte ihr erzählen können, wie sehr Fred sich etwas aus ihr machte, indem er Sorge trug, daß jeder, der überhaupt nur an Angela dachte, so peinvoll wie nur möglich umgebracht wurde. Angela nahm Joes Hand und zog ihn zu sich auf das Bett nieder. „Du bist nicht wie Fred", flüsterte sie ihm zu. „Du bist gefühlvoll und wunderbar und siehst gut aus." Und sie führte seine Hand an ihre Brust. Er versuchte, sie wegzuziehen. „Was ist, magst du mich nicht?" fragte Angela. „Weißt du denn nicht, daß ich ganz schrecklich verliebt in dich bin?" „Angela", sagte Joe ganz nervös, „Sie können doch nicht in mich verliebt sein, Sie gehören Fred." „Ich gehöre gar keinem", sagte Angela. „Dir möchte ich gehören." „Aber das ist unmöglich! Fred brächte uns beide um, würden wir etwas miteinander anfangen. Das weiß ich ganz genau. Er zerstückelt gern Leute in kleine Scheiben." Er versuchte, sich aufzurichten. „Ich muß weg hier." Aber sie hielt ihn zurück. „Du willst wirklich gehen?" Sie zog ihre Bettdecke weg, und da lag sie ohne etwas an. Absolut nichts hatte sie an. Joe betrachtete sie und alles begann sich um ihn zu drehen. Sie streichelte ihn jetzt sogar noch und zog ihn immer näher. „Mein Liebling. Ich bin verrückt nach dir. Nimm mich!" Na ja, und bedauerlicherweise war Joe nun auch nicht aus Holz. Sein Widerstand war total gebrochen. Er riß sich in Windeseile die Kleider vom Leib. Zum Teufel damit, dachte er, Fred erfährt es ja nicht.. Und was das Übertreten des sechsten Gebots angeht, so wird Gott ja wohl mit anderen Sündern genug zu tun haben, daß er nicht ständig nur auf mich aufpaßt. In fünf Sekunden war er bei Angela im Bett, und sie schlang die Arme um ihn. Und er dachte: Das ist das Tollste jetzt, was ich jemals erlebt habe. Aber in diesem Moment donnerte die Stimme von Fred „Eispickel" Bulgatti hinter ihnen: „Aha! Also habe ich euch erwischt!" Joe fuhr hoch, und da stand Fred neben dem Bett und sah zornig auf ihn herab. Man sagt, daß, wenn jemand ertrinkt, sein ganzes Leben noch einmal blitzschnell an ihm vorüberzieht. Joe war nicht am Ertrinken, aber trotzdem begann sein ganzes Leben noch einmal blitzschnell an ihm vorüberzuziehen. Und er fragte sich, was ihm Fred wohl als erstes abschneiden würde. Er war sich allerdings auch ziemlich sicher, was es wäre. Fred stand da und war puterrot im Gesicht vor Wut. „Zieht euch an", schrie er, „alle beide." Angela hatte Todesangst. Sie wußte gut genug, wozu Fred fähig war. Aber ihr Entsetzen war nichts verglichen mit dem, was Joe empfand. Er war kaum imstande, aus dem Bett zu taumeln und sich anzuziehen. Fred behielt sie beide unentwegt im Auge. „Mein Mädchen und mein bester Freund!" sagte er. Joe beschloß bei sich, daß er, wenn er schon sterben mußte, dann genausogut wie ein Mann sterben konnte... „Gib Angela keine Schuld", sagte er, „es war allein meine Schuld. Ich habe sie gezwungen.. ." „Halt den Mund!" fuhr ihn Fred an. „Du redest nur, wenn du gefragt wirst." Und er wandte sich an Angela. „Du kleine Schlampe, du! Nach allem, was ich für dich getan habe!" Als sie beide angezogen waren, sagte Fred drohend: „Mein Wagen steht draußen. Wir machen eine Fahrt." Joe war durchaus klar, daß dies das Ende bedeutete. Gott tötete ihn nun tatsächlich dafür, daß er das sechste Gebot gebrochen hatte. Nichts konnte ihn jetzt mehr retten. Angela sagte: „Fred, Liebling, es ist doch alles anders, als es aussieht. Wir wollten doch nur..." „Ich habe gesehen, was ihr getan habt", sagte Fred. , „Aber -" „Und du hältst jetzt ebenfalls den Mund. Los jetzt." Er ging hinaus zu seinem .Wagen, einer langen, schwarzen Limousine. Am Steuer saß einer von seinen Mafialeuten. Fred schob Joe und Angela hinein auf den Rücksitz. „Los", sagte er zum Fahrer. Joe zitterte vor Angst. Es war ihm klar daß dies seine letzten Augenblicke auf Erden waren und daß er in kleine Stücke zerhackt und den Fischen zum Fraß vorgeworfen würde. Aber er brachte doch noch einige Worte heraus. „Wohin bringst du mich?" „Du sollst das Maul halten, habe ich gesagt", fuhr ihn Fred an. Der Rest der Fahrt verlief in Schweigen. Joe schien, als, führen sie stundenlang, und er war sehr überrascht, als er merkte, daß sie in Las Vegas ankamen. Was denn, sollte er in Las Vegas umgebracht werden? Der Wagen hielt vor einer der Hochzeitskapellen. Joe wurde immer verwirrter. „Aussteigen!" kommandierte Fred. Angela und Joe stiegen aus. „So", sagte Fred, „jetzt will ich euch die Situation erklären." Er blickte Joe in die Augen. „Ich sollte dich eigentlich umbringen", sagte er. „Du warst mein Freund und ich habe dir vertraut. Aber weil ich ein weichherziger Mensch bin, lasse ich dich leben." Joe traute seinen Ohren nicht. Nun wandte Fred sich an Angela. „Auch dir", sprach er, „habe ich vertraut, aber du warst mir untreu. Doch auch dir vergebe ich. Weißt du aber auch, warum? Weil ich tief im Herzen überzeugt bin, daß ihr alle beide nicht anders konntet. Ihr habt euch verliebt und konntet dem, was geschah, einfach nicht widerstehen." Auch Angela starrte Fred nun völlig ungläubig an. „Weil ich also, wie gesagt, so ein weiches Herz habe, schenke ich euch beiden das Leben." Er wandte sich wieder an Joe. „Ihr beide werdet jetzt heiraten." „Aber ich kann Angela nicht heiraten", sagte Joe. „Ich habe doch schon eine Frau." „Darüber mach dir mal keine Sorgen" informierte ihn Fred. „Die ist gerade jetzt eben bei Gericht und läßt sich von dir scheiden." Joe war derart in Panik, daß er sich nicht einmal fragte, wie denn das zuging, daß alles so rasch arrangiert war, und wieso seine Frau eine Scheidung bekommen konnte, während er gleichzeitig bereits Angela heiratete. Er hätte das alles sehr viel besser verstanden, wenn er von dem Gespräch gewußt hätte, das am Tag zuvor stattgefunden hatte. An diesem Tag zuvor sprach Fred in seinem Büro mit einem seiner sogenannten Leutnants. „Ich muß dieses Weib, die Angela, loswerden", hatte Fred gesagt. „Die treibt mich zum Wahnsinn. Ständig verlangt sie mehr und mehr. Jetzt hat sie schon allen Schmuck und alle Pelze der Welt und immer noch kriegt sie den Hals nicht voll." „Ja, aber wie soll man sie loswerden, ohne ihre Gefühle zu verletzen" Doch Fred wußte die Antwort darauf schon. „Dazu benutze ich Joe", sagte er. „Ich ahne nämlich, daß Angela versucht, ihn zu sich ins Bett zu kriegen." „Denkst du denn, er tut es?" „Spinnst du oder was? Selbstverständlich tut er es. Den Mann, den Angela nicht herumkriegen würde, gibt es nicht. Ich habe ein Auge auf ihre Wohnung, und sobald es passiert, überrasche ich sie beide. Dann zwinge ich ihn, sie zu heiraten und veranlasse seine Frau, sich von ihm scheiden zu lassen, und alles ist in bester Butter. Außerdem habe ich eine neue Freundin, eine tolle Schönheit." So kam es, daß Joe Smith sich mit der schönen Angela verheiratet und von seiner Frau, die er haßte, geschieden fand. Und das alles, wenn man es sich überlegt, dachte Joe, weil ich das sechste Gebot übertrat: Du sollst nicht ehebrechen. 7. KAPITEL DAS SIEBTE GEBOT: DU SOLLST NICHT STEHLEN. Er hieß Tom. Tom Warner. Er arbeitete als Angestellter in einer Bank, und sein Gehalt war hundertfünfzig Dollar die Woche. Wäre er Junggeselle gewesen und hätte allein gelebt, dann hätte das wohl zum Leben gereicht. Aber Tom war verheiratet und hatte drei Jungs. Wie soll man mit so einem Hungerlohn eine Frau und drei Söhne ernähren und kleiden, ihnen Schuhe kaufen und sie auf die Schule schicken? Völlig unmöglich. Als Tom noch jünger war, dachte er an nichts anderes, als daß er einmal ungeheuer erfolgreich sein wollte und vielleicht sogar eines Tages seine eigene Bank haben würde. Als er dann seine Frau Mary kennenlernte, dachte er an nichts anderes, als daß er ihr ein wunderschönes Zuhause schaffen wollte. Und als seine Jungs auf die Welt kamen, dachte er an nichts anderes, als daß er mit ihnen später auf einer großen Jacht um die Welt reisen wollte. Nun, mit fünfundvierzig, dachte er an nichts anderes als Geld. Der Stapel seiner unbezahlten Rechnungen wuchs immer weiter an, und es schien ihm, als verginge überhaupt kein Tag mehr, an dem nicht eine Rechnung kam. Wie sehr sie sich auch bemühten zu sparen, Tom und Mary kamen einfach nicht mehr nach mit dem Bezahlen. Die lronie dabei war, daß Tom bei seiner Arbeit in der Bank jeden Tag mit Millionen umging. Sein Problem war nur, daß es halt nicht seine Millionen waren. Eines Morgens beim Frühstück sagte Mary: „Liebling, die Kinder brauchen neue Schuhe." „Wir haben ihnen doch erst vor zwei Monaten neue gekauft." „Ja, ich weiß. Aber sie gehen schnell kaputt. Außerdem ist der Fleischer noch nicht bezahlt. Ich habe versucht, erneut auf Kredit Fleisch von ihm zu bekommen, aber er sagte, es geht nicht mehr." „Wieviel sind wir ihm denn schuldig?" „Zweihundert Dollar." Was Tom betraf, hätten ihn auch zweitausend Dollar nicht mehr aus der Ruhe gebracht als zweihundert. „Wir haben kein Geld, um Ihn zu bezahlen"., sagte er zu seiner Frau. Es war ihr unangenehm, das auch noch zur Sprache bringen zu müssen, aber sie sagte es dennoch. „Und auch der Bäcker, Liebling, will sein Geld von uns haben." „Schon wieder?" sagte Tom. Es waren ohnehin nicht nur der Fleischer und der Bäcker. Auch der Mann von der Versicherung wollte Geld haben und der Mechaniker und ein Elektriker, der einiges im Haus gerichtet hatte, und der Zahnarzt der Kinder und der Fernsehreparaturdienst und überhaupt am dringendsten ihr Hausherr. Toms Wohnung kostete dreihundert Dollar Miete im Monat, dabei war es nur eine winzige Wohnung, in der alle lebten. Aber jeden Monat hatte er Schwierigkeiten, die Miete zu bezahlen. Als sie eingezogen waren, hatte er noch geglaubt, er werde in seiner Bank bald befördert und bekomme ein höheres Gehalt. Mary sagte: „Warum gehst du nicht zu Mr. Gable und bittest ihn um Gehaltsaufbesserung?" Mr. Gable gehörte die Bank, bei der Tom arbeitete. „Er hat sie dir schon seit Jahren versprochen." „Ich weiß", sagte Tom. „Aber es ist mir unangenehm, ihn immer danach zu fragen." In Wirklichkeit war es ihm nicht nur unangenehm, sondern er hatte richtig Angst vor Marvin Gable. Gable war hart und autoritär, ein richtiger Diktator, dem es Spaß machte, gemein zu seinen Angestellten zu sein. Er war sehr reich, hielt aber nichts davon, seinen Reichtum mit anderen zu teilen. Im Gegenteil, er bezahlte die schlechtesten Löhne in der ganzen Stadt und prahlte auch noch damit. „Du hast dir eine Aufbesserung verdient", sagte Mary zu ihrem Mann. „Nun geh auch hin und stell dich auf die Hinterbeine. Kämpfe für dein Recht!" Mary war stärker als ihr Mann. Tom war ein sehr schüchterner Mensch, der alles mögliche in Kauf nahm, nur um nicht irgend jemandem zu nahe zu treten. Mary liebte ihn sehr, aber sie hätte doch gern gesehen, wenn er etwas mehr Entschlußkraft und Mut besessen hätte. „Versprich es mir", sagte sie. „Gut, ich verspreche es", sagte Tom. „Wann willst du es tun?" „Gleich heute vormittag." . Tom ging zu Mr. Gable in dessen Büro und bat um eine Gehaltserhöhung. „Mr. Gable", sagte er, „ich arbeite jetzt seit zehn Jahren bei Ihnen und habe in dieser ganzen Zeit erst eine einzige Gehaltsaufbesserung bekommen. Ich arbeite sehr hart und fleißig und glaube, daß ich Anspruch auf mehr Gehalt habe." Gable war ein großer, fetter Mann, der nur für Essen und Frauen lebte. Für seine Angestellten hatte er überhaupt nichts übrig. „Was bezahle ich Ihnen jetzt?" „Hundertfünfzig die Woche", sagte Tom. Mr. Gable zeigte sich überrascht. „Was denn, so viel? Da sollten Sie doch froh und glücklich sein, ein solches Gehalt zu beziehen." „Sir, ich habe eine Frau und drei Kinder. Da habe ich große Schwierigkeiten, damit auszukommen." Gable sagte: „Ach, wahrscheinlich werfen Sie ja doch das meiste Geld fürs Kino und für Vergnügen hinaus." In Wirklichkeit war Tom schon seit zehn Jahren nicht mehr im Kino gewesen, und wann er zuletzt auf einer Party war, daran konnte er sich überhaupt nicht mehr erinnern. „Nein, Sir", sagte er nervös, „so ist das nicht. Ich gehe überaus sparsam mit meinem Geld um, und doch reicht es hinten und vorne nicht." „Ja, also jedenfalls muß es bis auf weiteres reichen; da kann ich Ihnen auch nicht helfen", sagte Gable. „Die Zeiten sind schwierig, Tom. Geld ist rar. Aber Sie sind ja fleißig und ordentlich und da wollen wir mal nächstes Jahr sehen, ob wir Ihnen eine Gehaltserhöhung geben können." „Entschuldigung, Mr. Gable", sagte Tom, „aber genau dasselbe haben Sie mir auch schon voriges Jahr gesagt, und im Jahr zuvor auch schon." „Was denn, soll das heißen, Sie belästigen mich regelmäßig jedes Jahr mit Ihren Wünschen nach mehr Geld?" sagte Gable. „Nein, also das wollen wir dann doch abstellen. Wenn Ihnen Ihr Posten nicht gefällt, dann stelle ich jemand anderen dafür ein." Tom geriet in Panik. Der Gedanke, seine Stellung zu verlieren, war denn doch zuviel. Dann blieb ihm und Mary und den Kindern nicht mehr viel übrig, als zu verhungern. „Nein, ich liebe meine Arbeit", sagte er. „Wirklich, Sir. Dann lassen wir das mit der Gehaltsaufbesserung vorerst eben. Vielleicht können wir später einmal wieder darüber reden." „Aber sicher doch", sagte Mr. Gable. „Und jetzt zurück an die Arbeit!" Und Tom ging zurück an seine Arbeit. Es war ein sehr geschäftiger Vormittag in der Bank. Zu deren Kunden gehörten auch große Firmen, reiche Investoren und sogar ein paar kleine Länder. Die Bank verlieh täglich mehrere Millionen. Und viel von diesem Geld ging durch Toms Hände. Er dachte über die reichen Leute nach. Die mußten sich keine Sorgen wegen einer Rechnung des Zahnarztes oder des Fleischers machen. Auch nicht, ob sie sich die Reparatur ihres Autos leisten konnten. Und sie hatten erst recht nicht zu fürchten, ob sie demnächst noch ein Dach über dem Kopf hatten. Die Sorgen dieser Leute bestanden einzig darin, wo sie denn den nächsten Urlaub verbringen, welchen Pelzmantel sie ihrer Frau kaufen und in welche der teuren Schulen sie ihre Kinder schicken sollten. Als er nach Hause kam, fragte ihn Mary: „Nun, Liebling, hast du deine Gehaltserhöhung bekommen?" Er wollte schon Nein sagen, aber dann sah er den erwartungsvollen Blick in ihren Augen, und es war ihm klar, daß er es nicht über sich bringen würde, sie zu enttäuschen. „Ja", log er also, „habe ich." Da warf sie die Arme um ihn. „Oh, Liebling, das ist wundervoll." Tom fühlte sich elend. Wieso, fragte er sich, hatte er sie angelogen? Aber er kannte den Grund natürlich. Er ertrug es nicht, ihr gegenüber einzugestehen, daß er ein Versager war, zu schwach, um darauf zu bestehen, daß er das Gehalt bekam, das ihm zustand. „Das feiern wir", sagte Mary. „Wir gehen mit den Kindern heute abend ins Restaurant aus. Wir waren schon so lange nicht mehr in einem Restaurant essen." Tom geriet in Panik. Woher sollte er das Geld nehmen, um seine ganze Familie in ein Restaurant auszuführen? „Das ist eine gute Idee", sagte er aber, wenn auch schwach. Er suchte in seinen Taschen. „Ich habe keine Zigaretten mehr", sagte er. „Ich gehe mal schnell welche holen." „Ich mache inzwischen die Kinder fertig", sagte Mary. Tom war verzweifelt. Er ging aus dem Haus, aber statt Zigaretten zu kaufen, ging er in ein Leihhaus, wo man sich gegen ein Pfand Geld borgen kann. Der Besitzer blickte auf, als Tom hereinkam. „Kann ich etwas für Sie tun?" Tom nahm seine Armbanduhr ab. „Ich möchte mir etwas Geld auf diese Uhr leihen." Der Leihhausbesitzer untersuchte die Uhr genau und sagte: „Ich kann Ihnen zehn Dollar dafür geben." „Zehn Dollar? Aber die Uhr ist hundert wert!" „Tja", sagte der Mann achselzuckend, „allerhöchstens fünfzehn kann ich Ihnen geben." Tom wußte, daß er übervorteilt wurde, aber er brauchte das Geld dringend. „Also gut", sagte er. Der Mann nahm die Uhr und zählte Tom drei Fünfer hin. „Wenn Sie die Uhr nicht in einer Woche wieder einlösen", sagte der Mann, „habe ich das Recht, sie zu verkaufen." Tom war entsetzt,. Er brauchte die Uhr. Eine Woche! Wo sollte er in einer Woche diese extra-fünfzehn Dollar hernehmen? „Könnten wir nicht einen Monat machen?" „Absolut nicht! In einer Woche verkaufe ich die Uhr." Und Tom dachte: Wie bin ich da nur hineingeraten? Seine Lüge Mary gegenüber brachte ihn tiefer und tiefer in Schwierigkeiten. Am Abend ging Tom mit Mary und seinen drei Söhnen in ein chinesisches Restaurant. Das hatte er ausgesucht, weil es billig war. Die Rechnung belief sich auf genau fünfzehn Dollar. Jetzt hatte er keine Uhr und auch kein Geld mehr. Auf dem Heimweg sagte Mary: „Das hat mir und den Kindern wirklich gut gefallen, Tom. Übrigens, wie hoch ist denn deine Gehaltserhöhung eigentlich?" Jetzt war es längst zu spät, ihr noch die Wahrheit zu sagen. „Fünfzig Dollar pro Woche", sagte er. Wenn ich schon lüge, dachte er, kann ich auch gleich mächtig lügen. Mary umarmte ihn. „Das ist wunderbar, Liebling. Da verdienst du jetzt zweihundert die Woche." „Stimmt", sagte Tom. Ja, im Traum. Zweihundert Dollar! Und wenn ich hundert Jahre alt werde, zahlt mir Mr. Gable keine zweihundert die Woche. „Jetzt können wir endlich alle Rechnungen bezahlen", sagte Mary überglücklich. Ich weiß, was ich mache, dachte Tom. Ich bringe mich um. Dann kann Mary mit dem Geld von meiner Versicherung die Rechnungen bezahlen. Es war der einzige Ausweg, der ihm einfiel. „Wie spät ist es?" fragte Mary. Tom wollte ganz automatisch auf die Uhr schauen, als ihm erst einfiel, daß er gar keine mehr hatte. „Ich habe meine Uhr zu Hause gelassen", sagte er. Tom lag die folgende Nacht wach und zermarterte sich den Kopf über einen Ausweg aus seiner verfahrenen Lage. Wenn er seine Stellung aufgab, mußte er woanders wieder ganz von vorne anfangen, ganz unten. Wenn er sie aber behielt und dazu vielleicht eine zweite Abendarbeit annahm, dann sah er Mary und seine Jungs überhaupt nicht mehr und arbeitete nur noch und sonst nichts. Er liebte aber seine Familie sehr und konnte die Vorstellung, überhaupt nicht mehr mit ihr zusammen zu sein, nicht ertragen. Es gab nur eine Lösung: Selbstmord. Er hatte eine Lebensversicherung auf zehntausend Dollar. Damit hätte Mary genug Geld, um alle Rechnungen zu bezahlen und die Kinder auf eine Schule zu schicken. Und sie konnte sie dazu sogar noch in Restaurants ausführen und ins Kino. Ja, das ist die Lösung, dachte er. Ich muß mich umbringen, da hilft nichts. Dann aber fiel ihm plötzlich ein, daß die Versicherung bei Selbstmord nicht galt. Viel besser, es mußte ein Unfalltod sein. Wenn er eines natürlichen Todes starb, wurden die zehntausend Dollar fällig. Bei einem Unfalltod verdoppelte die Summe sich sogar! Ich muß es also so machen, dachte er, daß es wie ein Unfall aussieht. Und er begann seinen Unfalltod zu planen. Ich laufe einem schnellfahrenden Bus in den Weg, dachte er. Da können sie nie beweisen, daß es Selbstmord war. Oder ich fahre mit dem Auto in einen Abgrund. Genau, das tue ich. Ich nehme das Auto und verunglücke an einem Abgrund. Er sah hinüber zu Mary, die tief schlief, und dachte: Sie wird mich vermissen, und die Jungs auch. Aber in ein paar Jahren findet sie wieder einen anderen und heiratet noch einmal. Und da begann er sich selbst so leid zu tun, daß er weinte, aber lautlos, damit er seine Frau nicht aufweckte. Am Morgen fühlte er sich schon wieder sehr viel besser. Er wußte jetzt, was er zu tun hatte, um seine Familie zu retten. Es war entschieden, und er hatte die Absicht, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Er liebte seine Familie genug, um sein Leben für sie hinzugeben. Beim Frühstück sagte Mary: „Du bist heute aber sehr guter Laune, Liebling, sicher wegen der Gehaltserhöhung, nicht?" „Ja", sagte Tom. „Ich war schon lange nicht mehr so guter Laune." Und das stimmte sogar. Der Gedanke an den Tod schreckte ihn nicht mehr, wenn er damit das Glück seiner Familie erkaufen konnte. Nun, da er seine Entscheidung getroffen hatte, begann Tom, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Er vergewisserte sich, daß seine Versicherungspolice in Ordnung war. Er machte eine sorgfältige Liste aller unbezahlten Rechnungen in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit. Zuerst kam die Miete, dann der Fleischer, dann erst alle übrigen. Und er wollte Mary eine Liste mit Anweisungen hinterlassen. Halt, nein, fiel ihm dann aber ein. Das geht ja nicht. Dann wissen sie, daß ich meinen Tod geplant habe. Er sah sich in der Bank um und dachte: Das ist heute mein letzter Tag hier. Alle diese Leute sehe ich nie wieder. „Gehen wir zusammen essen?" fragte jemand hinter ihm. Es war Gregory, einer der anderen Angestellten der Bank. „Ja, gern", sagte Tom. Es sollte schließlich sein letztes Mittagessen werden. Sie gingen zu einem Restaurant in der Nähe der Bank. Gregory arbeitete in der Abteilung Fusionen der Bank und war sogar einer der Vizepräsidenten. Aber er haßte Mr. Gable genauso wie Tom. „Haben Sie schon gehört", fragte er Tom, „was Gable für ein neues Geschäft gemacht hat?" „Nein", sagte Tom kopfschüttelnd. „Er holt einen geheimen Kredit an die Goldene Kaffeegesellschaft von Venezuela zusammen. Wenn das an der Börse bekannt wird, steigen die Aktien dieser Firma wie eine Rakete hoch, tausend Prozent." Er senkte die Stimme. „Wenn Sie schlau sind, kaufen Sie gleich jetzt ein paar von diesen Aktien. Die Sache wird wahrscheinlich erst am Montag bekanntgegeben." Aktien kaufen, dachte Tom verbittert, womit denn? Er hatte doch nicht einmal mehr eine Armbanduhr zum Versetzen. „Danke für den Tip", sagte er aber. „Das will ich tun." Sie aßen fertig und Gregory sagte: „Tja, Zeit, zurück zur Arbeit zu gehen." Zeit, sich zum Sterben fertig zu machen, dachte Tom jedoch. Sein Plan stand fest. Morgen war Samstag, da wollte er dann Mary sagen, er fahre mal kurz weg, um eine Besorgung zu machen. Die kleine Stadt, in der sie lebten, war ringsherum von Bergen umgeben. Da gab es genug Stellen, wo man einen Unfall an einem Abgrund haben konnte, ohne daß jemand sagen konnte, es sei keiner gewesen, sondern Absicht. Er kehrte in die Bank zurück, für den letzten Nachmittag, seiner Absicht nach. Auf der anderen Seite der Halle sah er Gregory ins Telefon flüstern, und es war ihm klar, daß Gregory heimlich diese Aktien kaufte, die bald tausend Prozent mehr wert sein sollten. Glücklicher Gregory! Eine Sekretärin kam zu Tom und reichte ihm ein Blatt Papier. „Dieser Transfer ist eben von unserer Bank in Schweden gekommen. Sie sollen es deren Konto gut- schreiben." „Geht in Ordnung", sagte Tom. Er besah sich das Papier. Eine Million Dollar wurden da überwiesen. Er starrte die Zahl lange an. Heute war Freitag. Die Überweisung mußte also erst am Montag erfolgt sein. Das bedeutete: drei Tage... Der ordentliche Ablauf wäre gewesen, die Gutschrift für das Konto der schwedischen Bank sofort zu buchen. Doch da dachte Tom auf einmal: Ach zum Teufel mit dem ordentlichen Ablauf! Mit einem Schlag sah er Licht am Ende des Tunnels. Ganz einfach, dachte er, ich buche die Überweisung auf das allgemeine Konto der Bank und schreibe dafür einen Scheck über eine Million aus. Vor Montag wird das nicht entdeckt. Bis dahin aber kann ich bereits den Gewinn auf diese Kaffeeaktien einkassieren und das Geld wieder ersetzen, kein Mensch merkt etwas. Wenn ich mir, dachte er, dieses Geld bis Montag nur ausleihe, dann ist das nicht gestohlen. Sobald der Kurs dieser Aktien steigt, zahle ich alles zurück und bin mit dem verdienten Rest reich. Dann brauche ich mich auch nicht umzubringen. Er saß lange da und grübelte, was er nun tatsächlich tun sollte. Schließlich entschloß er sich. Er rief einen Aktienmakler an. „Ich kaufe für eine Million Aktien der Goldenen Kaffeegesellschaft von Venezuela." Als er wieder auflegte, zitterten ihm die Hände. Jetzt habe ich gerade, dachte er, eine Million Dollar gestohlen. Wenn das aufkommt, wandere ich für den Rest meines Lebens hinter Gitter. Am nächsten Morgen sagte Mary zu ihm: „Hast du nicht gesagt, du mußt heute wegfahren, über die Berge, wegen einer Besorgung?" „Das habe ich verschoben", sagte Tom. Er war stark in Versuchung, ihr zu erzählen, wie reich sie nun bald sein würden, aber er ließ es dann doch bleiben. Sobald am Montag die Neuigkeit über diese Kaffeefirma heraus und der Aktienkurs in die Höhe geschossen war, wollte er seinem Börsenmakler die Anweisung geben, sofort wieder zu verkaufen, die ausgeliehene Million wieder in die Bank zurücküberweisen, seine Stellung kündigen und mit Mary und den Jungs auf eine Ferienreise nach Europa fahren. Vielleicht kaufe ich sogar eine Jacht, dachte er. Unnötig zu sagen, daß Tom an diesem ganzen Wochenende kein Auge zutat. Die Stunden schlichen ihm nur so dahin. Endlich war es Montagmorgen. Sehr früh schon rief Tom seinen Börsenmakler an. „Wie steht es mit der Goldenen Kaffeegesellschaft von Venezuela?" fragte er. „Was soll damit sein?" fragte der Makler dagegen. „Naja, um wieviel ist der Kurs gestiegen?" „Um gar nichts", sagte der Makler. „Im Gegenteil, er ist einen Punkt runter." Tom sank das Herz in die Hose. „Was?" „Ja. Wieso, haben Sie erwartet, daß er steigt?" „N-ein", sagte Tom. „Ich meine, ja ... ich ... Ach, nichts." Er warf den Telefonhörer hin. In seinem ganzen Leben war er noch nie so deprimiert gewesen. Sein Arbeitskonto hatte einen Fehlbetrag von einer Million. Was mache ich jetzt? fragte er sich. Am Ende des Tages wurden immer alle Arbeitskonten der Bank überprüft und ausgeglichen. Er saß ausweglos in der Falle. Um zehn Uhr rief er den Makler noch einmal an. „Etwas Neues mit dem Kurs?" „Ja." Tom hüpfte das Herz im Leibe schon." „Er ist noch einmal einen Punkt runtergegangen." Tom knallte den Hörer noch wütender auf die Gabel als beim erstenmal. Also gut, dachte er. Dann gehe ich jetzt schnurstracks zu Mr. Gable ins Büro hinein und sage ihm, was ich getan habe. Sollen Sie mich doch verhaften und mich ins Gefängnis werfen. Sollen doch Mary und die Kinder entehrt sein... Nein, das kann ich nicht machen. Ich warte lieber, bis sie mich selbst abholen. Darauf mußte er ohnehin nicht lange warten, das war ihm klar. Es war Mittag. Um drei Uhr nachmittags gingen die Kontenprüfungen an, und da flog er unweigerlich auf. Er ging zu Gregorys Schreibtisch hinüber. „Sagen Sie mal", sagte er, „nur ganz nebenbei, erinnern Sie sich noch, daß Sie mir von dieser Geschichte mit dem Kaffee aus Venezuela erzählt haben? Gibt es da irgendwelche Neuigkeiten?" Gregory sagte: „Es sieht so aus, als wäre die Sache geplatzt." Tom hätte sich am liebsten gleich auf der Stelle umgebracht. Gregory fragte: „Kommen Sie mit zum Essen?" Tom schüttelte den Kopf. Ihm war der Appetit vergangen. Das war nun wohl endgültig der letzte Tag seiner Freiheit. Er beschloß, daß er nicht extra warten wollte, bis sie seinen Unterschleif entdeckten. Er wollte jetzt gleich wie ein Mann zu Mr. Gable gehen und sich selbst stellen. Er sah bei einem Blick über die Schalterhalle hin, daß Gable in seinem Büro saß. Er holte tief Luft und ging hinein. Mr. Gable war in einige Papiere vertieft. Jetzt ist es soweit, dachte Tom. Das ist das Ende meiner Ehe und meines Lebens.. Vermutlich kriege ich zwanzig Jahre. „Mr. Gable", begann er. „Sehen Sie nicht, daß ich beschäftigt bin?" „Aber ich -" „Kommen Sie später." „Aber ich-" „Später, habe ich gesagt!" Tom stand noch einen Augenblick da, dann drehte er sich um und ging. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und saß dort nachdenklich und dachte, wie dumm er gewesen war. Alles hatte mit dieser blöden Lüge angefangen, daß er die Gehaltserhöhung bekommen habe. Dann ging es weiter mit der Armbanduhr. Und dann mit der Idee vom Selbstmord. Mein ganzes Leben habe ich verpfuscht, dachte er. Er sah, daß Mr. Gable drüben auf der anderen Seite der Schalterhalle sich anschickte, wegzugehen. Schnell eilte er noch einmal hinüber, um jetzt sein Geständnis abzulegen. „Mr. Gable, ich -" „Ich gehe gerade zum Essen." „Aber-" Doch da war Gable schon weg. Nicht einmal mein Geständnis lassen sie mich loswerden, dachte Tom. Am besten gehe ich gleich zur Polizei und sage dort alles. Nein, doch nicht. Mr. Gable sollte es schon zuerst erfahren. Schließlich dann - es war inzwischen zwei Uhr - stand Tom, als Mr. Gable vom Essen zurückkam und wieder in sein Büro ging, zum drittenmal auf und war wild entschlossen, sich diesmal von nichts mehr abhalten zu lassen. Er hatte sich genau zurechtgelegt, was er sagen wollte: Mr. Gable, ich habe eine Million Dollar von Ihrer Bank unterschlagen. Ich weiß, es war nicht recht, aber ich tat es für meine Familie. Ich bin bereit, vor der Polizei ein Geständnis abzulegen und ins Gefängnis zu gehen. Und diesmal wollte er sich von Mr. Gable auch auf keinen Fall noch einmal unterbrechen und abweisen lassen. Er stand also auf, um zu Gable in dessen Büro zu gehen. In diesem Moment klingelte sein Telefon. Da er sein Geständnis im Kopf genau vorbereitet hatte, wollte er sich nun auch durch das Telefon nicht mehr abhalten lassen. Er setzte also seinen Weg zu Gables Büro zielstrebig fort. Aber das Telefon auf seinem Schreibtisch hörte nicht auf zu klingeln. Tom zögerte. Dann entschloß er sich, abzuheben - zum letzten Telefongespräch seines Lebens. Er kehrte um, ging zurück zu seinem Schreibtisch, hob ab und meldete sich. „Hallo?" sagte er ungeduldig. „Tom?" „Ja." Es war der Börsenmakler, und er klang furchtbar aufgeregt. „Mein guter Mann, Sie haben den Haupttreffer gelandet!" „Was?" „Die Kaffeeaktien! Die spielen verrückt!" Tom spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. „Tatsächlich?" „Der Kurs ist zehn Punkte gestiegen und steigt weiter. Was wollen Sie machen?" „Verkaufen", sagte Tom, „verkaufen Sie." „Gut, aber der Kurs steigt noch immer!" „Macht nichts verkaufen!" Er schrie es richtig ins Telefon. Als er auflegte, sank er entgeistert auf seinen Stuhl. Er hatte zehn Millionen Dollar verdient! Das Zehnfache! Es wurde ihm schwindlig. Zehn Millionen! Alles, was er jetzt noch tun mußte, war, die eine Leihmillion wieder zurückzutransferieren, und dann waren neun Millionen für ihn selbst übrig! Gable kam auf seinen Schreibtisch zu. „Tom, Sie müssen heute abend mal wieder Überstunden machen. Ich habe da einige Verträgt, die ich -" Tom stand auf und sagt er „Mr. Gable, stecken Sie sich Ihre Verträge in die Ohren!" Und er ging davon. Gable starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Tom rücküberwies die eine Million, die er für sein Geschäft von der Bank genommen hatte, und kassierte seine neun Millionen Gewinn von dem Makler ein. Er zog mit Mary und seinen drei Jungs in ein schönes, großes Haus, kaufte Mary ein neues Auto und elegante Kleider und fuhr mit ihr und seinen Söhnen auf eine dreimonatige Reise nach Europa. Und alles, weil er das siebte Gebot gebrochen hatte. 8. KAPITEL DAS ACHTE GEBOT: DU SOLLST KEIN FALSCHES ZEUGNIS GEBEN WIDER DEINEN NÄCHSTEN. Donald war noch nie verliebt gewesen. Er war Junggeselle. Er arbeitete als Schuhverkäufer in einem Kaufhaus in Chicago und führte ein ruhiges und zurückgezogenes Leben. Er wohnte in einem kleinen Apartment. Er war weder glücklich noch unglücklich. Sein Leben war ohne Aufregungen, aber das machte ihm nichts aus. Er kam jeden Tag von der Arbeit nach Hause, mixte sich einen Drink und las ein Buch oder sah fern. Doch dann auf einmal veränderte sich sein ganzes Leben. Als er eines Abends wieder nach Hause kam, waren die Spediteure gerade dabei, Möbel in das Apartment nebenan zu tragen. Diese Wohnung hatte schon monatelang leergestanden, und Donald fragte sich, wer denn da wohl einzog. Er fand es bald heraus. Als er am nächsten Morgen zur Arbeit ging, erhaschte er einen ersten Blick auf seine neuen Nachbarn. Die Frau war sehr elegant. Sie war klein und dunkelhaarig und von schöner Gestalt. Ihr Mann aber war groß und sah böse aus. Gleich beim ersten Anblick fiel Donald der Vergleich von der Schönen und dem Untier ein. Er nickte ihnen zu. Die Frau lächelte freundlich, aber ihr Mann brummte nur. Donald sah ihnen nach, wie sie nach oben in ihre neue Wohnung gingen. Er fragte sich, was das wohl für Nachbarn sein würden. Er fand es bald heraus. Mitten in der Nacht erwachte Donald durch Lärm und Geschrei in der Wohnung nebenan. Die Wände waren so dünn, daß er alles hören konnte, was dort gesprochen wurde. Der Mann schrie die Frau an. „Sag du mir nicht, was ich zu tun habe! Wenn ich die ganze Nacht ausbleiben will, dann bleibe ich die ganze Nacht aus! Keine Frau schreibt mir mein Leben vor!" „Ich will dir doch nicht dein Leben vorschreiben", hörte er die Frau antworten. „Aber du bist bei anderen Frauen und das -" „- geht dich gar nichts an!" schrie der Mann zurück. „Wenn diese Nörgelei nicht aufhört, dann passiert etwas, das sage ich dir!" Zu seinem Entsetzen hörte Donald dazu gleich anschließend das Geräusch von Ohrfeigen und das Weinen der Frau. „Schlag mich bitte nicht", flehte sie. „Dann halte den Mund!" Daraufhin wurde es still, aber Donald konnte nicht mehr einschlafen. Er lag die ganze Nacht wach und sorgte sich um die schöne Frau in der Wohnung nebenan mit ihrem brutalen Ehemann. Am nächsten Morgen sah er die Frau, als er aus der Wohnung kam, wieder. Sie war ebenfalls auf dem Weg zur Arbeit. Sie hatte ein blaues Auge und ein verschwollenes Gesicht. „Guten Morgen", sagte Donald. Sie sah verlegen aus, erwiderte den Gruß aber. „Guten Morgen." Donald war versucht, ihr zu sagen, daß er vergangene Nacht alles gehört hatte, wollte sie aber doch lieber nicht weiter in peinliche Verlegenheit bringen. Er dachte daran, die Sache bei der Polizei anzuzeigen. Aber schließlich ging es ihn nichts an. Er hoffte, daß es wenigstens nicht wieder vorkäme. Aber das war eine sehr falsche Hoffnung. Am selben Abend ging es wieder los, als er sich gerade zum Schlafengehen vorbereitete. „Wahrscheinlich", hörte er den Mann in der Nachbarwohnung hinter den dünnen Wänden wieder laut schimpfen, „treibst du dich mit einem der Ärzte im Krankenhaus herum, was?" „Das ist nicht wahr", antwortete die Frau. „Nur weil du untreu bist, heißt das noch lange nicht, daß ich es auch bin." „Fang ja nicht damit wieder an, Frau", schrie der Mann, „oder du machst mit meinem Ledergürtel Bekanntschaft." Donald hatte Mühe, seine Empörung zu bezähmen. Wie konnte eine Frau wie diese, wunderte er sich, nur so einen Mann heiraten? Er horchte weiter auf die Stimmen. „Du bist betrunken", sagte die Frau. „Hör doch bitte zu trinken auf." „Wer bist du denn, daß du somit mir redest?" Dann hörte Donald, wie Geschirr an die Wand geworfen wurde. „Bitte tu das nicht", sagte die Frau. „Das ist unser bestes Geschirr." „Alles hier gehört mir", sagte der Mann, „und deshalb kann ich damit machen, was ich will!" Donald hörte wieder das Geräusch einer Ohrfeige. „Du tust mir weh!" „Gut! Und wenn du nicht mit dieser Herumnörgelei an mir aufhörst, werde ich dir erst mal richtig wehtun! Hast du verstanden?" Donald hörte die Frau schluchzen. Er war so aufgebracht, daß er diesen Mann da drüben am liebsten umgebracht hätte. Er wußte zwar, daß ihn das alles nichts anging, aber er fand es einfach unerträglich, wie eine so schöne und sanfte Frau derart schlecht behandelt wurde. Am nächsten Morgen, als er aus der Wohnung trat, begegnete er seiner Nachbarin wieder. Sie machte den Eindruck, als hätte sie wenig oder gar nicht geschlafen. „Guten Morgen", sagte Donald. „Guten Morgen." Sie hat so ein sanftes, hübsches Lächeln, dachte Donald. „Entschuldigen Sie", sagte er, „es geht mich natürlich nichts an, aber ist bei Ihnen alles in Ordnung?" Sie sah sich nervös um. „Ja, ja", sagte sie dann, „es ist alles in Ordnung." Sie war offensichtlich sehr verängstigt. „Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann ..." sagte Donald. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Bitte", sagte sie, „tun Sie nichts. Wenn mein Mann nur wüßte, daß ich mit Ihnen rede, würde er mich schon umbringen." „Warum lassen Sie sich so von ihm behandeln?" fragte Donald. „Er war nicht so, als ich ihn heiratete", sagte sie. „Er hat sich so verändert, und ich weiß nicht, was ich tun soll." „Sie können sich doch trennen", sagte Donald. Aber sie meinte kopfschüttelnd: „Er würde mich überall finden. Er weiß, wo ich arbeite. Er würde kommen und mich töten." Donald wußte nicht mehr recht, was er noch sagen sollte. „Sollten Sie je Hilfe brauchen", sagte er schließlich, „denken Sie an mich." Sie lächelte. „Ich danke Ihnen." Sie sahen einander in die Augen und merkten beide, daß sie sich zueinander hingezogen fühlten. Es war das erstemal, daß Donald eine wirkliche Empfindung für eine Frau verspürte. Dies ist eine Frau, die ich sofort heiraten würde, dachte er. „Ich muß jetzt gehen", sagte die Frau. „Auf Wiedersehen." „Auf Wiedersehen." Donald stand da, sah ihr nach und überlegte, was er wohl für sie tun könne. Aber die Antwort war nur: Gar nichts. Mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Die Wände waren so hellhörig, daß Donald jedes Wort verstand, das in der Nachbarwohnung gesprochen wurde. Der Mann kam ständig betrunken und zornig nach Hause, und die Frau versuchte ihn zu beruhigen. Dann waren die Geräusche von Ohrfeigen zu hören und wie sie sagte: „Bitte, schlag mich nicht." Und daraufhin wieder Geräusche von Schlägen. Wenn ich nur etwas tun könnte, dachte Donald. Eines Samstag morgens, als er seine Wohnung verließ, traf er wieder einmal mit seiner Nachbarin zusammen. „Guten Morgen", sagte er. „Arbeiten Sie auch samstags?" „Nein, ich gehe nur irgendwohin frühstücken. Mein Mann schläft noch." „Darf ich Sie begleiten?" Sie zögerte. Er wußte, was sie dachte. „Keine Angst", sagte er. „Ihr Mann erfährt es nicht. Und außerdem, was ist schon dabei, wenn man zusammen frühstückt?" Sie lächelte. „Na gut." Sie gingen zu einem kleinen Cafe in der Nähe. „Ich freue mich, daß Sie meine Nachbarin geworden sind", sagte Donald. Sie lächelte. „Es ist eine hübsche Wohnung." Aber sie wußte natürlich, was Donald meinte. Er freute sich, daß sie in die Wohnung neben der seinen eingezogen war, weil sie sich dadurch kennengelernt hatten. „Was machen Sie beruflich?" fragte Donald. „Ich bin Krankenschwester. Ich arbeite in einer Klinik." „Wie sind Sie ausgerechnet Krankenschwester geworden?" Sie lächelte wieder. „Schon als kleines Mädchen wollte ich mich um andere Leute kümmern. Mein Vater war die meiste Zeit sehr krank, und als meine Mutter starb, pflegte ich ihn. Ich hatte auch eine Schwester, der es nicht gut ging, und auch für die sorgte ich." Sie fügte verlegen hinzu: „Dies zu tun, gefällt mir." Donald dachte: Wie gern hätte ich es, wenn jemand wie du für mich sorgte. „Wie lange sind Sie schon verheiratet?" „Zwei Jahre", sagte sie und zog die Stirn in Falten. „Wie haben Sie Ihren Mann eigentlich kennengelernt ?" „Als Patient in meinem Krankenhaus", erzählte sie. „Er hatte nach einer Schlägerei einige gebrochene Rippen. Ich pflegte ihn, und als er wieder gesund war, machte er mir einen Heiratsantrag." Sie sagte: „Ich weiß schon, was Sie jetzt denken. Aber als ich ihn heiratete, war er nicht so wie jetzt. Da war er noch freundlich und sanft und gutmütig. Ich gebe mir selbst die Schuld an seiner Veränderung." „Aber ich bitte Sie", sagte Donald. „Sie können doch nicht verantwortlich für das sein, was er tut. Man ist nur für sich selbst verantwortlich." „Das würde ich ja gerne glauben", antwortete sie. „Aber er gibt mir solche Schuldgefühle." „Das dürfen Sie einfach nicht zulassen", sagte Donald. Die Bedienung kam, und sie bestellten ihr Frühstück. Donald sah, daß die Frau Mühe hatte, zu essen, weil ihr ganzes Gesicht verschwollen war. In seinem ganzen Leben hatte ihm noch niemand so leid getan wie sie. „Wo stammen Sie her?" fragte er. „Aus Chicago", sagte sie. „Ich auch!" sagte Donald. „Von der East Side." „Da bin ich ebenfalls geboren und aufgewachsen." „Was hat Ihnen in Chicago besonders gefallen?" „Ich bin gern in die Oper und ins Theater gegangen." „Ich auch!" sagte Donald wieder. Es war ganz erstaunlich, wieviele Gemeinsamkeiten sie entdeckten. Sie redeten weiter über Chicago und die Schulen, die sie besucht hatten, und die Zeit verflog nur so. Donald war noch nie mit jemandem so gern zusammen gewesen wie mit ihr. Ich will mein ganzes Leben mit ihr verbringen, dachte er. Aber er wußte, daß das unmöglich war, solange sie diesen brutalen Ehemann hatte. Wenn er zuvor nur vermutet hatte, daß er diese Frau liebte, so wußte er es nach ihrem gemeinsamen Frühstück ganz genau und sicher. Sie war der netteste und liebste Mensch, dem er jemals begegnet war. Er deutete auf ihr verschwollenes Gesicht. „So kann das nicht weitergehen", sagte er. „Der Mann bringt Sie ja noch um." In ihren Augen standen Tränen. „Ich weiß nicht mehr aus noch ein." „Verlassen Sie ihn." Aber sie schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich habe ihn geheiratet und muß bei ihm bleiben." „Lieben Sie ihn denn?" fragte Donald. Sie sah ihm in die Augen und bekannte: „Jetzt nicht mehr." Sein Herz machte einen Freudensprung. Er legte seine Hand auf die ihre. „Ich freue mich, daß wir uns kennengelernt haben", sagte er. „Ich mich auch." Und da war ihr wunderschönes Lächeln wieder. Donald begleitete sie zurück zur Wohnung. Kaum war die Tür hinter ihr zu, hörte er auch schon ihren Mann brüllen. „Wo bist du gewesen? Mit wem hast du dich her umgetrieben?" „Mit niemandem", hörte er sie sagen. „Ich bin nur schnell frühstücken gegangen." „Lüg doch nicht!" Dann hörte Donald das Geräusch eines Schlages und wie jemand auf den Boden fiel. Und wie die Frau schluchzte. „Bitte, laß mich." Aber dem folgte nur ein weiterer Schlag, auf den hin die Frau laut aufschrie. Das höre ich mir jetzt nicht mehr länger an, dachte Donald. Er überlegte, ob er einfach in die Wohnung hineinstürmen sollte, um den Mann zur Vernunft zu bringen. Aber dann fiel ihm ein, daß der Mann bald doppelt so groß und stark war wie er. Nicht im Traum konnte er es mit ihm aufnehmen. Die Streitigkeiten in der Wohnung nebenan wurden immer schlimmer. Der Mann kam ständig mitten in der Nacht betrunken heim, und Donald hörte, wie er seine Frau aufweckte und anschrie. „Ich war mit einer richtigen Frau zusammen heute"! prahlte er dann. „Einer mit Feuer in den Adern." „Warum gehst du dann nicht wieder zu ihr?" sagte die Frau. Daraufhin folgten wieder einmal die Geräusche von Ohrfeigen und Schlägen. Ab und zu begegnete Donald der Frau im Treppenhaus, und jedesmal hatte sie entweder ein blaues Auge oder eine geschwollene Lippe, und man merkte daran, wie sie ging, daß sie Schmerzen hatte. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?" fragte er dann. Und sie antwortete stets nur: „Ja, ja, alles ist in Ordnung." Nie hörte er sie klagen. Er wollte zwar nichts sehnlicher als ihr helfen. Aber wie sollte er das anstellen? Es fiel ihm nichts ein. Er konnte nicht aufhören, an seine schöne Nachbarin zu denken. Bei der Arbeit, wenn er Schuhe verkaufte, waren seine Gedanken ständig bei ihr und ihrem schlimmen Ehemann. Ich muß sie von dem Kerl wegkriegen, dachte er immer öfter, bevor er sie wirklich umbringt. Wenn er sie doch nur selbst verließe! Aber er wußte, daß dies eine vergebliche Hoffnung war. Am nächsten Morgen indessen veränderte sich auf einmal alles. Sie begegneten sich wieder einmal auf dem Flur. Ihre Lippen waren verschwollen und gespalten. „Guten Morgen", sagte Donald. „Guten Morgen." Sie konnte kaum sprechen mit ihrem zerschlagenen Mund. Donald hielt es nicht länger aus. „Wir müssen miteinander reden" sagte er. Aber sie schüttelte den Kopf. „Ich komme zu spät zur Arbeit." „Das ist wichtig!" sagte er. „Geben Sie mir fünf Minuten, bitte!" Sie sah ihn an. „Meinetwegen." Er führte sie in das Lokal, wo sie damals zusammen gefrühstückt hatten. „Schauen Sie", sagte er, „so geht es doch wirklich nicht weiter, das müssen Sie doch selbst einsehen. Der Mann bringt Sie noch um, und das wissen Sie selbst am besten, nicht wahr?" Sie nickte und hatte Tränen in den Augen. „Ich weiß nicht, was ich tun soll." Sie weinte. „Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun", erklärte Donald entschlossen. „Sie ziehen aus. Sie verlassen ihn." Wieder schüttelte sie nur den Kopf. „Wohin soll ich denn?" „Ich suche Ihnen eine Wohnung", sagte er zu ihr, „wo er sie bestimmt nicht findet. Sie geben Ihre Arbeit in dem Krankenhaus auf. Ich habe genug Geld, um für Sie sorgen zu können." Sie sah ihn an und fragte: „Warum wollen Sie das denn für mich tun?" Und Donald sagte: „Nun, weil ich Sie liebe." Sie legte ihre Hand auf die seine und sagte: „Ich liebe Sie auch, Donald." In seinem ganzen Leben war Donald nie glücklicher gewesen als in diesem Augenblick. „Dann ist es abgemacht", sagte er. „Laß mir einen oder zwei Tage Zeit, bis ich eine Wohnung für dich habe. Dann läßt du dich von ihm scheiden und heiratest mich" Ihre Augen strahlten. „Du würdest mich wirklich heiraten?" „Aber selbstverständlich, nichts lieber als das", sagte Donald. „Also, was sagst du?" Sie lächelte glücklich. „O ja. Ja." Um zwei Uhr morgens erwachte Donald von dem Lärm in der Nachbarwohnung. Der Mann schrie seine Frau gerade wieder einmal laut an. Und dann begannen sie miteinander handgreiflich zu werden, nur war es diesmal schlimmer als jemals zuvor. Er hörte, wie die Frau sagte: „Ich ertrage das jetzt nicht mehr. Ich verlasse dich. Ich heirate einen anderen." Donald hüpfte das Herz im Leibe vor Freude. Doch dann brüllte der Mann: „Waaas willst du?" Gleich darauf folgte das Geräusch einer ganz heftigen Ohrfeige und der Aufschrei der Frau: „Hör auf! Ich ziehe aus!" „Du gehst nirgends hin!" tobte der Mann. Und die Frau schrie wieder auf. Dann vernahm Donald zu seinem Entsetzen das Geräusch, wie etwas Schweres auf Fleisch klatschte und ein Körper zu Boden fiel. Und danach herrschte plötzlich abrupte Stille. Donald erbleichte. Er hat sie getötet! Er preßte das Ohr an die Wand und lauschte. Er konnte hören, wie ein Körper am Boden entlang geschleppt wurde. Dann vernahm er das schleifende Geräusch von einem fortgezogenen Teppich, und im Geiste sah er vor sich, wie der Mann die tote Frau in den Teppich einwickelte. Und dann ging drüben die Wohnungstür auf. Donald hastete zu seiner Wohnungstür und horchte wieder. Er hörte, wie sich jemand leise zur Treppe bewegte und sie hinabging. Er bringt die Leiche weg, um sie zu verscharren! Die ganze Nacht ging Donald unruhig in seiner Wohnung hin und her und überlegte, was er tun sollte. Am Morgen machte er zu der üblichen Zeit, da sie zur Arbeit fortging, seine Wohnungstür auf. Aber weit und breit war nichts von ihr zu sehen. Er blieb bis zum Mittag zu Hause. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und rief in dem Krankenhaus an, in dem die Frau arbeitete. Aber als er verlangte, mit ihr zu sprechen, sagte die Frau am Telefon: „Tut mir leid, sie ist heute nicht zur Arbeit gekommen." Natürlich nicht, dachte Donald, sie ist ja auch tot. Aber der brutale Mensch sollte nicht. einfach so davonkommen. Er legte wieder sein Ohr an die Wand und hörte den Mann drüben hin und her gehen. Aha, also er versteckte sich zu Hause! Wahrscheinlich wartete er auf eine günstige Gelegenheit, bis er fliehen konnte! O nein, das tust du nicht, dachte Donald. Du hast deine Frau umgebracht und dafür sollst du büßen. Aber wie sollte er ihn büßen lassen? Er hatte ja keinen wirklichen Beweis für das, was geschehen war. Der Mann würde natürlich einfach alles abstreiten und sagen, seine Frau sei lediglich verreist. Und die Polizei konnte nichts dagegen beweisen. Wenn er nur wüßte, was der Mann mit der Leiche gemacht hatte! Aber wenn die Polizei die Wohnung durchsucht, dachte er, findet sie bestimmt etwas. Nur, wie kriege ich sie dazu, daß sie die Wohnung durchsucht? Da fiel ihm etwas ein. Er ging zum Polizeirevier. „Ich möchte einen Mord anzeigen", sagte er. Der diensttuende Polizist blickte hoch. „Wer ist ermordet worden?" „Eine Nachbarin von mir." „Und woher wissen Sie, daß da ein Mord passiert ist?" In diesem Moment brach Donald das achte Gebot. „Weil ich es gesehen habe", sagte er. „Ich wohne direkt nebenan von dem Mann, der seine Frau umbrachte. Ich hörte, wie sie sich schlugen und sie dann rief: „Bring mich nicht um! Aber er tötete sie daraufhin:" „Woher wollen Sie das wissen?" „Weil ich dann meine Wohnungstür aufmachte und sah, wie er die Leiche aus dem Haus schleifte." Jetzt zeigte sich der Polizist ernsthaft interessiert. „Wo ist der Mann jetzt?" „Immer noch in seiner Wohnung." „Gut", sagte der Polizist. „Ich gebe Ihnen zwei Kriminalbeamte mit." „Danke sehr", sagte Donald. Er hatte falsches Zeugnis wider seinen Nächsten abgelegt und war stolz darauf. Er gedachte die Frau zu rächen, in die er sich verliebt hatte. Die beiden Kriminalbeamten kamen mit ihm nach Hause. „Dies hier ist meine Wohnung", sagte Donald zu ihnen. „Und in dieser danebenan ist der Mord geschehen." „Und Sie sagen, der Mann ist noch immer da drinnen?" „Richtig." „Und Sie haben gesehen, wie er die Leiche fortgeschafft hat?" „Ja", log Donald. „Gut." Die beiden Kriminaler zogen ihre Pistolen und sagten: „Bleiben Sie zurück jetzt. Wir erledigen das schon." Einer klopfte an die Tür. Sie warteten. Nichts geschah. Er klopfte noch einmal, diesmal lauter. Immer noch wurde nicht aufgemacht. Der eine legte das Ohr an die Tür und sagte dann: „Es ist jemand drinnen und geht herum. Er ist tatsächlich zu Hause." Sein Kollege sagte: „Dann brechen wir die Tür auf." Und das taten sie. Sie traten die Tür ein, und alle drei stürmten in die Wohnung. In einer Ecke zusammengekauert saß mit verschreckten Augen die Frau. Von ihren Mann war keine Spur zu sehen. Donald begriff entsetzt schlagartig, was wirklich passiert war. Die Frau hatte ihren Mann umgebracht, nicht umgekehrt! Was er in der Nacht gehört hatte, war, wie sie die Leiche ihres Mannes fortschleppte! Er hatte sie der Polizei ausgeliefert! Die Frau schaute ihn an und sagte: „Ja, ich habe ihn umgebracht. Ich mußte es tun." „Sie sind festgenommen", sagten die Kriminaler. „Kommen Sie ohne Aufsehen mit." Und Donald stand da und mußte schockiert zusehen, wie die einzige Frau, die er je geliebt hatte, abgeführt wurde. 9. KAPITEL NEUNTES UND ZEHNTES GEBOT: DU SOLLST NICHT BEGEHREN DEINES NÄCHSTEN HAUS. DU SOLLST NICHT BEGEHREN DEINES NÄCHSTEN HAB UND GUT. Dies ist die Geschichte von einem gewissen Howard, der zwei Jahre lang seinem Nachbarn nach dessen Haus trachtete. Howard war Kriminalbeamter. Jedenfalls war er einmal einer gewesen. Nachdem er bei der Polizei ausgeschieden war, mietete er sich ein Haus und zog mit seiner Frau und seiner Tochter dort ein. Es war eine schlimme Gegend der Stadt. Das Haus war klein und heruntergekommen. Aber das Haus nebenan sah sogar noch baufälliger aus. „Warum tust du uns das an?" schimpfte seine Frau lauthals. „Wir können doch nicht in so einem Loch wohnen!" „Ich will hier wohnen", sagte Howard unbeeindruckt. „Und eines Tages werde ich das Nachbarhaus dazukaufen" Howards Frau sah zum Fenster hinaus auf die windschiefe Bruchbude nebenan. „Das willst du kaufen?" schrie sie ihn an. „Wieso? Das ist das heruntergekommenste Haus, das ich jemals gesehen habe!" Vor diesem Haus stand ein Schild, daß es zu verkaufen sei, und die Adresse des damit beauftragten Immobilienmaklers dazu. Zu diesem ging Howard. „Ich möchte das Haus neben dem, das ich gemietet habe, kaufen", sagte er. „Was soll es kosten?" „Dreißigtausend Dollar", sagte die Frau, die dafür zuständig war. „Aber", fügte sie hinzu, „ich will gleich ehrlich mit Ihnen sein. Soviel ist es nicht wert. Es ist nicht einmal zehntausend wert, aber der Besitzer besteht drauf, daß wir es nicht für weniger als dreißigtausend verkaufen dürfen." Sie fuhr kopfschüttelnd fort: „Fünf Jahre lang wird es nun schon angeboten, aber niemand will es haben. Ehrlich gesagt, ist es ja auch im schlimmsten Zustand, in dem ich je ein Haus gesehen habe. Ich weiß nicht einmal, warum wir den Verkauf übernommen haben." „Kann man den Besitzer sprechen?" fragte Howard. „Leider nein." Sie senkte die Stimme. „Er sitzt eine Gefängnisstrafe von zehn Jahren ab." Das allerdings wußte Howard bereits, denn er selbst war es gewesen, der ihn bei einem Bankraub gestellt, festgenommen und ins Gefängnis gebracht hatte. „Angenommen", sagte er, „ich würde ein paar tausend Dollar als Anzahlung hinterlegen." „Bedaure", sagte die Frau, „der Eigentümer macht es ausdrücklich zu Bedingung, daß die gesamte Summe auf einmal in bar bezahlt werden muß. Wissen Sie, er benimmt sich so, als wollte er das Haus in Wirklichkeit gar nicht loswerden." „Ich werde es so oder so kaufen", sagte Howard. „Verlassen Sie sich darauf. Irgendwie treibe ich das Geld schon auf." Howard verdingte sich als Wächter in einem Kaufhaus und nahm außerdem auch noch eine zweite Arbeit als Nachtwächter in einem Bürogebäude an. „Wozu tust du das? keifte seine Frau wieder. „Du brauchst doch keine zwei Jobs! Deine Tochter und ich bekommen dich überhaupt nicht mehr zu sehen." „Das ist nur vorübergehend", versicherte ihr Howard. „Nur bis ich genug Geld verdient habe, um das Haus nebenan kaufen zu können." Seine Frau traute ihren Ohren nicht. „Was denn, hast du etwa immer noch diese Bruchbude da drüben im Kopf? Dieses Rattenloch? Ach nein, das nehme ich zurück. Nicht einmal Ratten würden sich dort aufhalten!" „Es wird dir schon gefallen", sagte Howard. „Warte es nur ab." Als er am nächsten Zahltag seine beiden Löhne einstrich, sagte seine Frau: „Die Hälfte nehme ich. Ich muß Sachen zum Anziehen für mich und unsere Tochter kaufen." „Es ist kein Geld da", sagte Howard. „Wieso denn das?" „Weil ich alles, was ich verdiene, auf die Bank trage." Sie sah ihn irritiert an. „Wozu brauchen wir denn ein Bankkonto?" „Das habe ich dir doch gesagt. Ich spare, damit ich das Nachbarhaus kaufen kann." Bisher hatte sie nur den Verdacht gehabt, daß ihr Mann verrückt sei. Jetzt wußte sie es sicher. „Du willst sämtliches Geld auf die Seite tun, damit wir dieses windschiefe Loch kaufen können?" „Richtig", sagte Howard. Als er an diesem Tag abends um sechs von seinem Tagesjob nach Hause kam, blieb ihm noch eine Stunde, bis er seinen Nachtjob antreten mußte. Seine Frau erwartete ihn schon. „Ich will zum Essen ausgehen", sagte sie. „Ich bin schon eine ganz Ewigkeit nicht mehr aus dem Haus gekommen." „Ich habe das Abendessen mitgebracht", sagte Howard. Er machte eine Tüte auf und holte drei Pizzas heraus. „Das ist unser Abendessen?" „Ja", sagte Howard. „So sparen wir Geld." „Wozu sparen wir Geld?" fragte sie. Aber sie wußte natürlich die Antwort im voraus. „Damit wir das Nachbarhaus kaufen können." Es wurde immer schlimmer. Nicht nur kaufte Howard keine Sachen zum Anziehen für Frau und Tochter und - führte sie niemals zum Essen aus. Er nahm auch noch einen dritten Job an. Jetzt arbeitete er praktisch rund um die Uhr und kam kaum noch zum Schlafen. Seine Frau fing an, sich allmählich wirklich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen. Ihr Bruder kannte einen guten Psychiater und überredete Howard, zu diesem zu gehen. „Ich brauche keinen Psychiater", sagte Howard. „Ich bin gesund." „Du arbeitest rund um die Uhr in drei Jobs, damit du das mieseste Haus der Welt kaufen kannst, und da hältst du dich für gesund? Du gehst jetzt zu diesem Psychiater, basta!" Damit er endlich Ruhe hatte, gab er schließlich nach. Der Psychiater war ein großgewachsener, sehr distinguiert aussehender Mann. Er genoß einen ausgezeichneten Ruf. Howards Fall interessierte ihn, weil ihm ein solcher noch nie unter gekommen war. „Legen Sie sich hin, Howard", sagte er. Howard tat es gehorsam. „Ihre Frau sagt mir, daß Sie gleich in drei Jobs auf einmal arbeiten." „Richtig." „Gefällt Ihnen arbeiten so sehr, Howard?" „Nein." „Würden Sie denn auch ordentlich leben können, wenn Sie nur zwei Jobs hätten?" „Ja." „Und wenn Sie nur in einem einzigen arbeiteten, auch?" „Ja, ja, doch", sagte Howard. Der Psychiater betrachtete ihn intensiv. „Aha. Also brauchen Sie in Wirklichkeit keine drei Jobs, zumal Sie auch nicht gern arbeiten. Aber trotzdem haben Sie drei zugleich angenommen." „Richtig." „Tun Sie das vielleicht, um zusätzliches Geld zu verdienen?" „Ja." „Und was haben Sie mit diesem zusätzlichen Geld vor?" Howard setzte sich auf. „Ein Haus kaufen", sagte er enthusiastisch. „Nämlich mein Nachbarhaus. Es ist das schönste Haus der Welt." Der Doktor war sehr erstaunt. „Ihre Frau sagt mir, es ist das allerhäßlichste Haus der Welt." „Das versteht sie nicht", sagte Howard. „Aber ich sage Ihnen, daß es wirklich das allerschönste ist." „Also gut, Howard. Meinen Sie, Sie könnten mir ein Foto von diesem Haus mitbringen?" „Ich habe sogar eines bei mir", sagte Howard. „Ich habe es immer einstecken." Der Doktor fand das sehr interessant. „Kann ich es also mal sehen?" „Sicher", sagte Howard und holte das kleine Foto aus seiner hinteren Tasche. Er hielt es dem Doktor stolz hin. Der Psychiater besah es sich lange stumm. Es war tatsächlich das mieseste Haus; das er je gesehen hatte. Es war aus Holz, sah schmutzig und verwittert aus, war windschief, und ein Teil des Daches war schon heruntergefallen. „Haben Sie sich irgendwie in dieses Haus verliebt, Howard ?" „So könnte man vielleicht sagen, auf eine bestimmte Art", nickte Howard. „Ich begehre es jedenfalls mehr als alles auf der Welt." „Hatten Sie immer schon so eine Liebe zu Häusern ?" wollte der Psychiater wissen. „Nein, natürlich nicht. Wofür halten Sie mich denn, für irgendeinen Spinner? Nein, das ist das erste und einzige Haus, das ich liebe." „Und Sie wollen es kaufen?" „Ich werde es kaufen. Und wenn ich dort einziehe, bin ich der glücklichste Mensch der Welt." „Ihre Frau verabscheut dieses Haus, Howard. Sie haßt es richtig." „Das wird sich ändern. Glauben Sie mir, sie wird es später genauso lieben wie ich." Es war eine Situation, die nicht mehr schlimmer werden konnte. Howard widmete auch noch den letzten seiner Gedanken im Wachzustand seiner fixen Idee von dem Kauf dieses Hauses. Er machte Pläne damit und dachte sich Wege aus, wie er den Kaufpreis schneller zusammenbringen konnte. Hätte der Tag mehr als vierundzwanzig Stunden gehabt, dann hätte er auch noch einen vierten Job angenommen. Weil er buchstäblich alles Geld auf die Bank trug und nichts mehr für seine Familie übrig ließ, wuchs das Konto auch sehr rasch an. Inzwischen hatte er schon zehntausend Dollar beieinander. Jetzt ging er wieder zu der Frau vom Immobilienbüro. „Ich habe jetzt zehntausend Dollar beisammen", sagte er zu ihr. „Damit mache ich eine Anzahlung auf das Haus." Aber sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich habe inzwischen noch einmal mit dem Besitzer gesprochen. Er weigert sich absolut, weniger als dreißigtausend bar auf die Hand anzunehmen. Ich habe ihm nachdrücklich klar gemacht, daß sein Haus nicht mehr wert ist als allerhöchstens zehntausend, und nicht einmal das, und daß er es auch dafür nicht loskriegen wird, aber er sagt, das ist ihm egal. Bedaure, aber ich kann wirklich nichts mehr tun in der Sache." Howard stand auf. „Ich komme wieder." Sie sah ihm nach und dachte: Ein seltsamer Mensch. Was ist denn nur so Besonderes an diesem Haus, daß sich jemand derart bemüht und anstrengt? Genau dasselbe überlegte auch Howards Frau. „Liebling, nun sag mir doch endlich, warum tust du das? Ich weiß schon nicht mehr, wann ich mir das letzte Mal ein Kleid kaufen konnte, und dreimal Pizza pro Tag hängt mir zum Hals heraus, und unserer Tochter geht es nicht anders. Wir leben schon wie die Tiere! Nie gehen wir aus, niemals tun wir irgend etwas." „Wirst du endlich mit dieser Nörgelei aufhören?" brüllte Howard sie an. „Ich kann dir versprechen, du wirst überglücklich sein, wenn wir in dieses Haus einziehen." „Das wagst du ein Haus zu nennen?" schrie seine Frau zurück. „Diesen vermoderten Holzhaufen? Nicht einmal meinen Hund würde ich da unterbringen!" „Du hast doch gar keinen Hund." „Natürlich haben wir keinen Hund. Wir könnten ihn ja nicht einmal füttern. Wir haben nicht einmal selbst genug zu essen, weil du jeden letzten Penny auf dieses blöde Bankkonto trägst." „Ade", sagte Howard. „Ich muß jetzt zur Arbeit." So ging das noch ein halbes Jahr lang weiter. Howards Kleidung war bereits zerschlissen, er hatte ein Loch in der Hose und im Hemd ebenfalls. „So kannst du nicht mehr zur Arbeit gehen", sagte seine Frau. „Du mußt dir eine neue Hose und ein neues Hemd kaufen." „Das können wir uns nicht leisten", sagte Howard. „Was soll das heißen, wir können es uns nicht leisten? Du verdienst doch schließlich fast tausend Dollar die Woche!" „Schon richtig", sagte Howard, „aber davon muß jeder letzte Penny gespart werden für das Haus." „Ich kann das nicht mehr hören mit dem Haus!" rief seine Frau. „Howard, ich habe zwar geschworen, das nie zu tun, aber jetzt tue ich es: Ich lasse mich scheiden!" Das war ein richtiger Schock für Howard. „Du kannst dich nicht scheiden lassen. Ich liebe dich doch." „Wann hast du denn noch Zeit, mich zu lieben? Du gehst morgens zur Arbeit von acht bis sechs und dann zu deinem Nachtjob von sechs bis Mitternacht und dann noch zu dieser Wechselschicht von Mitternacht bis sieben Uhr morgens. Du hast kaum noch Zeit zum Atmen, geschweige denn, mich zu lieben! Ich kann so nicht weiterleben!" „Es dauert doch nur noch kurze Zeit!" beschwichtigte sie Howard. „Wir haben das Geld für das Haus fast schon beisammen!" „Und dann?" weinte seine Frau. „Was haben wir dann? Dann leben wir im schlimmsten Haus der Welt!" „Vertraue mir", sagte Howard. „Vertrauen? Ich kenne dich ja schon nicht mehr!" Und sie lief aus dem Zimmer. Howard wollte eigentlich bleiben und sie trösten, aber es ging nicht. Es war Zeit, wieder zur Arbeit zu gehen. Howards drei Jobs begannen ihren Tribut zu fordern. Er ging nur noch wie in Trance herum. Mehr als eine oder zwei Stunden Schlaf hatte er nie. Und weil er nichts Richtiges aß, war er auch schon ganz ausgezehrt. Ewig nur Pizzas und billige Sandwiches, das war keine anständige Ernährung. Jeden Tag war er noch müder, aber er zwang sich zur Ausdauer. Das Bankkonto wuchs auf zwanzigtausend, dann zweiundzwanzigtausend, fünfundzwanzigtausend ... Und er erschien wieder bei der Frau im Maklerbüro. Sie erkannte ihn kaum noch. Er hatte viel Gewicht verloren und sah ausgemergelt und erschöpft aus. Er hatte obendrein einen Bart, weil er sich keine Zeit mehr zum Rasieren nehmen wollte und konnte. Seine Stimme war so schwach, daß sie ihn kaum mehr verstand. „Geht es Ihnen nicht gut?" fragte sie. „Doch, doch, es ist alles in Ordnung." Aber seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern. „Ich habe jetzt achtundzwanzigtausend Dollar zusammen. Glauben Sie, daß -" Sie sah ihn mitleidig an. „Ich würde Ihnen ja gerne helfen. Aber unter dreißig geht nun einmal nichts." Er nickte. Er brauchte lange, bis er imstande war, sich wieder vom Stuhl hochzurappeln. „Also gut", flüsterte er, „dann komme ich eben wieder." Sie sah ihm nach, wie er davonschlurfte, und dachte bei sich: Das schafft er nicht. Das schafft er nicht mehr. Und Howard dachte: Nur noch zweitausend fehlen. In ein paar Wochen habe ich die auch noch beisammen, und dann wird das Haus endgültig gekauft. Seine Frau aber schickte Howard erneut zu dem Psychiater. Der Psychiater erkannte ihn ebenfalls nicht mehr. Howard sah aus, als stehe er schon am Rand des Todes, so abgemagert und ausgezehrt war er mit seinem langen Bart. „Schön, Sie wiederzusehen, Howard", sagte er aber trotzdem. „Geht es Ihnen gut? Fühlen Sie sich wohl?" „Mir geht es ausgezeichnet", sagte Howard. Aber seine Augen taten ihm weh, er hatte Magenschmerzen, und sein Kopf wollte ihm schier platzen. Mit all seinen Schmerzen konnte er den Doktor kaum noch sehen und erkennen. „Das freut mich zu hören, Howard", sagte der Doktor. „Ihre Frau sagt mir, daß sie wegen dieses Hauses nicht einmal mehr Essen kaufen." „Das stimmt nicht", sagte Howard. „Sie kann soviel Pizza haben, wie sie will." „Ja, aber man kann doch nicht nur von Pizza leben", sagte der Psychiater. „Ich schon", sagte Howard. „Sind Sie immer noch so entschlossen, dieses Haus zu kaufen?" „Aber ja", sagte Howard. „Ich will dieses Haus mehr als alles andere auf der Welt." Der Psychiater sagte: „Howard, kennen Sie eigentlich das Neunte und Zehnte Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus sowie Hab und Gut?" „Es ist mir ziemlich egal, ob dies das Neunte oder Zehnte oder sonst ein Gebot ist", sagte Howard. „Ich will dieses Haus jedenfalls haben." „Glauben Sie denn wirklich, damit glücklich zu werden?" Howard lächelte. „Sogar sehr glücklich werde ich damit sein." Der Psychiater beobachtete ihn schart. Howard hatte Löcher in den Schuhsohlen, und seine Kleidung war zerschlissen. Er sah aus wie ein Obdachloser. Der Mann war ganz offensichtlich krank im Kopf. Der Psychiater sagte: „Howard, hören Sie einmal zu. Ihre Frau und ich haben schon darüber gesprochen, daß es eine gute Idee wäre, wenn wir sie ein paar Tage lang in einem Krankenhaus gründlich untersuchen würden. Ich finde nicht, daß es Ihnen sehr gut geht." Da war Howard bereits auf den Füßen, und als er sprach, konnte ihn der Psychiater kaum verstehen, so leise war er. „Schicken Sie mir Ihre Rechnung, Doktor. Ich bezahle Sie, nachdem ich das Haus gekauft habe." Schließlich war der Tag doch da, an dem Howard - obwohl er kaum noch zu gehen imstande war - in das Immobilienmaklerbüro getaumelt kam. Er sah noch magerer aus als das letzte Mal. Sein Bart war noch länger geworden und seine Kleidung noch schäbiger. Hätte die Frau nicht gewußt, wer er war, hätte sie ihn nicht einmal hereingelassen. „Es ist geschafft", sagte Howard. „Jetzt habe ich das Geld." Und er legte ihr einen Barscheck über dreißigtausend Dollar auf den Tisch. Die Frau sah ihn ungläubig an. Da stand vor ihr ein Mann mit dreißigtausend Dollar, war dabei angezogen wie ein Landstreicher und roch, als hätte er schon ein halbes Jahr lang nicht mehr gebadet. Und er war so schwach, daß er kaum noch stehen konnte. „Setzen Sie sich", sagte sie. „Sie armer Mensch. Ist das alles Geld, das Sie auf der Welt besitzen?" Howard nickte. „Und Sie wollen es alles für dieses Haus ausgeben?" Howard nickte wieder. Die lmmobilienmaklerin sagte: „Na gut. Wenn das Ihr fester Wille ist, dann gehört Ihnen das Haus." Sie holte einen Kaufvertrag heraus. „Unterschreiben Sie hier." Howard griff nach der Schreibfeder, aber er war so schwach, daß er sie nicht halten konnte. Die Frau sah es alarmiert und hatte schon Angst, er werde ihr womöglich noch sterben, bevor der Kauf wirklich abgewickelt und rechtskräftig war. Sie half ihm die Feder zu halten und sah zu, wie er schließlich unterschrieb. „So", sagte sie, „jetzt ist es Ihr Haus." Gott stehe Ihnen bei, dachte sie im stillen dazu. „Danke", flüsterte Howard kaum hörbar. Er steckte den Kaufvertrag in seine zerrissene Tasche, und die Maklerin sah hinter ihm her, wie er langsam davonging. Der arme, verrückte Mann, dachte sie. Er hat gerade dreißigtausend Dollar einfach zum Fenster hinausgeworfen. Als Howard an diesem Abend nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: „Das Haus nebenan, Schatz, gehört uns jetzt." „Nicht doch!" „Aber ja! Und ich habe dir versprochen, daß du es noch sehr lieben wirst." Seine Sprache war so schleppend und undeutlich, daß sie ihn kaum verstehen konnte. „Howard, bitte, gehen wir zum Arzt." „Ich brauche keinen Arzt", sagte Howard. „Es geht mir ausgezeichnet." „Willst du dich dann endlich wenigstens etwas ausruhen?" drang sie in ihn. „Das werde ich tun", sagte Howard, „ich habe soeben meine Jobs aufgegeben." „Was hast du? Welchen Job?" „Alle." Sie starrte ihn an. Die eine Minute bestand er darauf, drei Jobs gleichzeitig zu haben, und in der nächsten gab er sie alle drei auf! Sie war wirklich mit einem Verrückten verheiratet! „Howard, du mußt zum Arzt gehen!" „Dazu habe ich keine Zeit. Wir ziehen noch heute abend in das neue Haus um." „Heute abend? Es ist schon fast zehn Uhr! Das wird doch wohl bis morgen früh warten können?" „Heute abend noch", beharrte Howard. Dabei war er schon so schwach, daß er sich an einem Stuhl festhalten mußte, um noch stehen zu können. Sie beschloß, daß es besser sei, nachzugeben. „Also gut, heute abend noch." Beide hatten sie bisher noch nie das Innere des Hauses gesehen. War es von außen schon schlimm, so war das gar nichts gegen drinnen. Das Haus war buchstäblich am Zusammenfallen, und in allen Räumen roch es modrig. Howards Frau brach bei diesem Anblick in verzweifelte Tränen aus. „Hier kann man doch nicht wohnen!" sagte sie. „Es ist ja nur für kurze Zeit", entgegnete ihr Howard. Sie glaubte nicht richtig zu hören. „Was denn, du hast das Haus gekauft, damit wir gerade nur kurze Zeit darin wohnen können?" „Richtig." „Howard, hör einmal zu -" Aber er lag bereits auf dem Boden und schlief wie ein Murmeltier. Er schlief vierundzwanzig Stunden lang am Stück. Seine Frau hatte nicht das Herz, ihn aufzuwecken. Als er schließlich erwachte, sah er sich um und sagte: „Wo sind wir hier?" „Na, in dem Haus, auf das du so scharf warst!" sagte seine Frau verbittert. „Und jetzt, da wir hier sind, wie soll es nun weitergehen?" „Erfreue dich daran", sagte Howard. Die nächsten beiden Tage verbrachte er weiter damit, sich nur auszuruhen. Am dritten Tag ging er in ein Eisenwarengeschäft und kaufte einen Pickel und eine Schaufel. „Was willst du denn damit?" fragte seine Frau. „Den Keller richten", sagte Howard. Er ging hinunter in den Keller, und sie hörte ihn dort den ganzen Tag hacken und graben. Am dritten Tag hörte sie ihn einen Schrei ausstoßen und eilte hinunter in den Keller, um nachzusehen, ob er sich vielleicht verletzt hatte. „Was ist?" fragte Sie. Er stand vor einem großen Loch, das er in den Boden. gegraben hatte. Sie kam näher und sah es. In dem Loch lag eine große Metallkiste. Sie sah zu, wie Howard sie herauszog und dann öffnete. In der Truhe befanden sich große Stapel von Hundertdollarscheinen. „Großer Gott", stammelte sie. „Was ist das denn?" Howard wandte sich ihr zu und lächelte. „Das ist eine Million", sagte er. „Die hat Bugsy Burton der First National Bank geraubt, aber ich habe ihn gefangen und für zehn Jahre ins Zuchthaus geschickt. Das Geld ist nie gefunden worden, aber Bugsy hat hier in diesem Haus gewohnt, und ich dachte mir immer schon, der einzige Ort, wo er es versteckt haben könnte, müßte hierin seinem eigenen Haus sein." „Ich glaube es einfach nicht", sagte seine Frau. „Morgen gehen wir zusammen mit unserer Tochter zum Einkaufen, und ich kaufe euch die schönsten Sachen, die es gibt. Dann gehen wir zum besten Essen, das du je hattest. Und anschließend machen wir gemeinsam eine Weltreise." Er grinste. „Was sagst du jetzt? Und soll ich dir noch etwas sagen? Wer immer das gesagt hat, daß man seines Nachbarn Haus und Hab und Gut nicht begehren soll, war ein Idiot!" 10. KAPITEL DER ZWEITE TEIL DES ERSTEN GEBOTS: DU SOLLST DIR KEIN BILDNIS VON MIR MACHEN. Es bleibt uns noch eine Geschichte zum zweiten Teil des Ersten Gebots: Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis von mir machen. Dieses Gebot bedeutet einfach nur, man darf keine Statue anfertigen, die Gott darstellen soll. Einfacher geht es nicht, sollte man meinen? Nun, dazu muß man bedenken, daß es ein wichtiges Gebot sein muß, wenn Gott es gleich mit zum ersten machte, jedenfalls Moses zufolge. Aber ich werde jetzt die Geschichte von dem Mann erzählen, der dieses Gebot übertrat. Wurde er dafür bestraft? Hatte er zu leiden? Kam er in die Hölle? Nichts von alledem. Ganz im Gegenteil, eben weil er dieses Gebot übertrat, wurde er reich. Es ist die Geschichte von einem armen italienischen Holzschnitzer, der auch in Italien lebte. Er hieß Tony, und alle Mädchen im Dorf wollten ihn heiraten. Aber Tony liebte die Tochter des Bürgermeisters. Da gab es aber natürlich ein Problem. Der Bürgermeister war reich und Tony arm. Und der Bürgermeister dachte selbstverständlich nicht daran, seine schöne Tochter so einen armen Schlucker und Nichtsnutz von Holzschnitzer heiraten zu lassen. Tony war allerdings ein sehr guter Holzschnitzer. Er schnitzte Tiere und Kinder, war aber so gutmütig und freigebig, daß er sie alle statt verkaufte einfach verschenkte, und deswegen hatte er auch kein Geld. Anna, die Bürgermeistertochter, war nun jedoch ganz wild in Tony verliebt. „Ich will dich heiraten", sagte Tony zu ihr. „Ich dich auch, mein Liebling", sagte Anna. „Aber Papa sagt, ich muß einen reichen Mann heiraten." Tony sagte: „Reich werde ich nie. Ich mache mir nichts aus Geld." „Aber Papa macht sich nur etwas aus Leuten mit Geld." „Vielleicht könnten wir durchbrennen und heiraten", schlug Tony vor. „Nein, das würde Papa zu sehr verletzen. Außerdem will er, daß ich den Bankdirektor heirate. Der ist sehr reich." „Liebst du den denn?" „Natürlich nicht. Du weißt doch, daß ich nur dich liebe." „So wie ich dich. Was machen wir dann?" „Kannst du dir denn nichts ausdenken, wie du reich wirst?" „Ich will doch aber gar nicht reich werden, Anna!" Da wurde Anna zornig. „Na gut, dann heirate ich eben den Bankdirektor." Aber als sie sah, wie traurig und verletzt Tony daraufhin dreinsah, umarmte sie ihn. „Das habe ich nicht so gemeint, Liebling. Wenn ich dich nicht kriegen kann, heirate ich gar keinen. Ist mir ganz egal, was Papa sagt." Nun war dies kein Gespräch, das nur einmal stattgefunden hätte. Es fand fast jeden Tag statt. Die beiden Liebenden wollten einander ganz dringend heiraten, aber ohne Papas Zustimmung ging es nicht. Solange Tony kein ansehnliches Vermögen hatte, konnte er auch mit keiner Zustimmung rechnen. Eines Vormittags kam schließlich der Bankdirektor zu Annas Vater. Er war alt und häßlich, aber reich. Annas Vater begrüßte ihn herzlich. Er mochte reiche Männer. „Wie geht es Ihnen?" fragte er. „Sehr gut, danke. Und Ihnen?" „Sie sehen mich sehr glücklich", sagte Annas Vater. „Ich bin wohlhabend, habe eine gute Frau und eine schöne Tochter." „Genau darüber möchte ich mit Ihnen sprechen", sagte der Bankdirektor. „Über Ihre Tochter. Ich habe sie beobachtet, seit sie ein kleines Mädchen war. Sie ist zu einer schönen Frau herangewachsen." Annas Vater nickte. „Ja, ich bin auch sehr stolz auf Sie." „Ich bin extra gekommen", sagte der Bankdirektor, „um bei Ihnen um ihre Hand anzuhalten." Annas Vater war überrascht. Er wußte, daß Anna den Bankdirektor nicht mochte. Er war alt und häßlich und gemein. Aber das Ausschlaggebende war eben, daß er reich war. Doch er wußte auch, daß Anna glaubte, in diesen jungen Holzschnitzer verliebt zu sein, der aber zu arm war, um sie zu heiraten. „Ich fühle mich sehr geehrt", sagte Annas Vater, „und ich weiß, daß sich auch Anna sehr geehrt fühlen wird, Sie zu heiraten." Der Bankdirektor lächelte. „Das hört man gern." „Sie erwartet, daß Sie sehr großzügig zu ihr sind." „Aber selbstverständlich. Sie wird ein schönes Zuhause haben und ein Automobil und Dienstpersonal, das ihr alle Arbeit abnimmt und sich um sie kümmert." Annas Vater lächelte. „Das klingt gut. Ich rede mit Anna und arrangiere alles." Die beiden Männer gaben sich die Hand darauf. Als Anna am Nachmittag nach Hause kam, sagte ihr Vater:. „Setz dich, mein Kind. Ich habe freudige Nachricht für dich." Anna runzelte die Stirn. Neuigkeiten, die ihren Vater freuten, waren für sie meistens wenig erfreulich. „Worum geht es, Vater?" „Ich habe mit dem Herrn Bankdirektor gesprochen. Er will dich heiraten." Anna sprang auf. „lieber sterbe ich!" rief sie. „Nie heirate ich ihn, nie. Ich werde keinen anderen als Tony heiraten!" Aber ihr Vater sagte: „Du tust, was man dir sagt, basta. Du heiratest den Bankdirektor." Anna kam weinend zu Tony gelaufen. „Was ist los?" fragte Tony. „Papa hat mir soeben mitgeteilt, daß ich jetzt den Bankdirektor heiraten muß. Wir sind heute verlobt worden." Tony brach schier das Herz. Er wußte, daß Anna mit ihrem Vater nicht debattieren konnte, denn in jenen Tagen war es in diesem kleinen italienischen Dorf immer noch üblich, daß die Eltern die Heirat ihrer Kinder festlegten. Diese hatten bei der Auswahl ihrer Ehepartner nichts mitzureden. Deshalb war Tony klar, daß er damit die einzige, die er je liebte und lieben würde, verlor. „Wann soll die Hochzeit sein?" fragte er. „In einem Vierteljahr, Papa wollte es sogar noch eher, aber ich habe darauf bestanden, daß es drei Monate sein sollen, weil ich hoffte, daß du vielleicht bis dahin noch etwas unternehmen kannst, was Papas Sinn ändert." „Was könnte ich denn machen?" sagte Tony. „Ich bin nur ein armer Holzschnitzer." Er hielt Anna in den Armen. „Ich gehe fort von hier", sagte er. „Warum?" „Weil ich es nicht aushalten könnte, hier zu leben und dich ständig als die, Frau eines anderen zu sehen. Ich werde irgendwohin weit weg von hier gehen und versuchen, dich zu vergessen." Aber in seinem Herzen wußte er, daß er sie nie vergessen können würde. Am nächsten Morgen packte Tony seine Sachen und verließ sein Dorf. Er reiste nach New York. Weil er nur sehr wenig Geld hatte, fuhr er auf einem Frachtschiff, einem schmutzigen alten Kasten, der drei Wochen brauchte, bis er in New York ankam. Das Meer war rauh und stürmisch, und alle wurden seekrank. Bis auf Tony, der viel zu intensiv damit beschäftigt war, an Anna zu denken. Sie ging ihm nicht aus dem Sinn. Der Gedanke, daß sie diesen alten, fetten Bankdirektor heiratete, machte ihn unsagbar traurig. Andererseits, dachte er, was hätte ich ihr auch schon bieten können? Ich habe kein Geld, um ihr irgend etwas zu kaufen. Ich kann ihr kein schönes Heim schaffen. Sie hat schon recht, wenn sie diesen Bankdirektor heiratet. Als er in New York ankam, war er sehr überrascht darüber, wie groß diese Stadt war. Er war überhaupt noch nie in einer großen Stadt gewesen. Die Straßen waren voller Autos und Busse und Millionen herumhastender Menschen, und dann wurde ihm außerdem schnell klar, daß er ein Problem hatte. Er sprach kein einziges Wort Englisch. Er lief in den Straßen herum, ohne zu wissen, wohin und ohne mit irgend jemandem reden zu können. Ein klein wenig Geld hatte er noch in der Tasche, und er war hungrig. Als er an einem Restaurant vorbeikam, ging er hinein und setzte sich an einen Tisch. Eine Bedienung kam und fragte: „Was soll es denn sein?" Tony starrte sie an. Er hatte keine Ahnung, was sie gesagt hatte. Sie wiederholte es. „Möchten Sie etwas bestellen?" Tony war verlegen. Er stand auf und eilte hastig aus dem Restaurant davon. Er lief weiter durch die Straßen, kam an einem weiteren Restaurant vorbei und ging wieder hinein. Diesmal kam ein Kellner. „Guten Tag. Wir haben schöne Spezialitäten heute. Leber mit Zwiebeln oder Schmorbraten oder Hackbraten. Der Hackbraten ist unsere Hausspezialität. Kann ich sehr empfehlen." Tony starrte ihn ebenso wortlos an, weil er auch hier kein einziges Wort verstand, und entfernte sich wiederum eiligst. Aber inzwischen war sein Hunger schon sehr groß. Was mache ich nur? fragte er sich. Ich habe zwar noch etwas Geld in der Tasche, aber ich werde verhungern. Doch dann war er gerettet. Er kam zu einer Cafeteria. Das ist eine Gaststätte, wo man an einer Theke bestellen kann, was man will. Er hatte einen Einfall. Er folgte einem Mann hinein und hielt sich immer eng hinter ihm. Der Mann ging an die Theke und sagte: „Apfelkuchen und Kaffee." Tony hörte aufmerksam zu und beobachtete, wie die Bedienung hinter der Theke dem Mann ein Stück köstlich aussehenden Apfelkuchen und eine Tasse heißen Kaffee auf sein Tablett stellte. Der Mann ging weg. Die Bedienung wandte sich an Tony. Tony lächelte und sagte: „Apfe-kuche unde Kaffee." „Ist gut." Und sie reichte ihm ein Stück Apfelkuchen und eine Tasse Kaffee. Tony rannte direkt zum nächsten Tisch und verschlang alles. Es schmeckte herrlich. Dann ging er erneut an die Theke und sagte zu der Bedienung wieder: „Apfe- kuche unde Kaffee!" Sie gab ihm noch einmal Apfelkuchen und Kaffee, und er aß und fühlte sich schon sehr viel besser. Am Abend fand er auch ein Unterkommen. Es war zwar in einer armen Gegend der Stadt, aber er wollte sein Geld aufsparen, bis er Arbeit gefunden hatte. Am nächsten Morgen wachte er hungrig auf. Er erinnerte sich daran, wie er es gestern gemacht hatte und eilte zu derselben Cafeteria zurück. Er ging zur Theke und sagte: „Apfe-kuche unde Kaffee!" Die Frau hinter der Theke gab ihm ein Stück Apfelkuchen und Kaffee. Tony verzehrte es. Die folgenden Tage, als er in New York herumlief und Arbeit suchte, ging er stets in diese eine Cafeteria. Schließlich aber wurde es ihm doch zu eintönig, immer nur dasselbe zu essen und es kam ihm eine andere Idee. Als er das nächste Mal in der Cafeteria war, folgte er diesmal einer Frau und hielt sich hinter ihr. Sie sagte, als sie an der Reihe war: „Ein Schinkensandwich." Tony sah zu, wie die Frau ihr köstlich aussehendes Sandwich bekam. Er trat zu der Bedienung vor und sagte mit seinem schweren Akzent: „Schin-ge-san-wisch" Aber dann fragte die Bedienung: „Weiß oder Roggen?" Tony starrte sie verständnislos an und wiederholte nur: „Schin-ge-san-wisch." „Weiß oder Roggen?" Tony schluckte. „Schin-ge-san-wisch." Jetzt wurde die Frau ungehalten. „WEISS ODER ROGGEN?" Da zuckte Tony hilflos mit den Schultern und sagte: „Apfekuche unde Kaffee." Am nächsten Tag fand er Arbeit bei einem italienischen Spielzeugmacher. Endlich hatte er wenigstens jemanden gefunden, der seine Sprache verstand. Der Lohn war kärglich, aber das machte Tony nichts aus. Er wollte gar nicht mehr, als was er für sich selbst zum Leben unbedingt brauchte, und um genug zu sparen, daß er Anna ein Hochzeitsgeschenk kaufen könnte. Den ganzen Tag schnitzte er Spielsachen, und die Kinder liebten sie. Sie kamen in die Werkstatt und sahen ihm zu. Weil er so freigebig war, versuchte er seine Spielsachen sogar zu verschenken, aber der Meister sagte: „Sei doch kein Narr. Wir können viel Geld mit diesen Sachen verdienen. Willst du denn kein Geld verdienen?" Tony mußte ihm die Wahrheit sagen. „Nein", sagte er, „eigentlich nicht. Und weil ich das nicht will, habe ich auch die einzige, die ich je liebte, verloren." Er konnte sich Anna lebhaft vorstellen, wie sie mit dem großen, fetten Bankdirektor verheiratet war. Sie würden eine Menge großer, fetter Kinder haben, und Anna würde lange vor der Zeit alt. Anna braucht Liebe, dachte er. Und ich bin der einzige, der sie ihr geben kann. Aber er wußte natürlich auch, daß es hoffnungslos war. Ihr Vater bestand nun einmal darauf, daß sie einen reichen Mann heiratete. Die nächsten Monate verbreitete sich die Kunde von Tony über ganz New York. Die Sachen, die er schnitzte, waren so gut und schön, daß er damit berühmt zu werden begann. „Ich mache dich zu meinem Geschäftspartner", sagte der Meister zu ihm. Tony aber schüttelte den Kopf. „Ich will kein Geschäftspartner sein. Ich will nur weiter meine Spielsachen schnitzen." Er hatte inzwischen Affen aus Holz geschnitzt und Pferde und Elefanten und Zebras und Giraffen, und sie waren alle so lebensecht, daß die Leute, die sie kauften, fast glaubten, sie laufen zu sehen. Und die Kinder waren ganz weg davon. Jeden Morgen sah Tony auf den Kalender und strich den Tag ab. Das zeigte ihm, daß Annas Hochzeit mit dem Bankdirektor immer näher rückte. Schließlich waren es nur noch drei Wochen hin. Er begann von Anna zu träumen, und es passierte etwas sehr Seltsames. In seinen Träumen schienen sie einander zu treffen. „Tony, mein Liebling", sagte dann Anna, „ich will den Bankmenschen nicht heiraten. Du mußt etwas tun, bevor es zu spät ist." „Was kann ich schon tun?" fragte er. Und Anna sagte: „Ich weiß es auch nicht. Viel Geld machen, vielleicht, damit mich Papa dich heiraten läßt." Und in Tonys Träumen gingen sie Hand in Hand am Flußufer entlang und machten ein Picknick. Es war wunderschön, wieder mit Anna zusammen zu sein. Aber er wußte auch, in drei Wochen war es selbst mit den Träumen zu Ende. Dann war sie mit einem anderen verheiratet. Und dann ereignete sich eine Art Wunder. Zwei Wochen vor Annas Hochzeit hatte er noch einmal einen Traum. Er träumte, daß er das Gesicht Gottes sah. Es stand ihm so deutlich vor Augen, daß er sich noch nach dem Aufwachen an jede Einzelheit erinnern konnte. Die ganze Zeit hatte er überlegt, was er Anna als Hochzeitsgeschenk schicken könnte. Jetzt wußte er es. „Das ist es!" rief er aus. „Ich schnitze eine Statue von Gott und schicke sie ihr!" Daß er damit ein Gebot übertrat, davon hatte er überhaupt keine Ahnung. Aber weil er Anna nun einmal so sehr liebte, wäre es ihm auch egal gewesen, wenn er es gewußt hätte. Er fing die Gottesfigur also zu schnitzen an und arbeitete fieberhaft Tag und Nacht daran, damit sie auch wirklich noch rechtzeitig zur Hochzeit fertig wurde. Tag für Tag wurde sie deutlicher und genauer und immer schöner. Es wurde eine der schönsten Figuren, die je gemacht wurden, weil Tony sie aus seiner großen Liebe für Anna schuf und die Figur deshalb voll von dieser seiner Liebe war. Als sie fertig war, betrachtete Tony sie und wußte, daß sie ein Meisterwerk war. Heute nachmittag gebe ich sie an Anna auf, beschloß er. Er war völlig erschöpft, weil er so intensiv an der Figur gearbeitet hatte. Er sagte zu seinem Meister: „Ich gehe nach Hause und schlafe ein bißchen." Fünf Minuten, nachdem er gegangen war, kam ein Mann in die Werkstätte, der von Tonys Arbeiten gehört hatte. „Arbeitet bei Ihnen ein gewisser Tony?" erkundigte er sich. „Ja." „Könnte ich den mal sprechen?" „Er ist gerade nicht da." „Na gut, dann komme ich später noch einmal..." In diesem Augenblick brach der Mann, als er einen Blick in den Nebenraum warf, verwundert mitten im Satz ab. Er sah die Gottesfigur, ging hin und betrachtete sie eingehend. „Das ist ja unglaublich!" sagte er. „Das ist die wundervollste Figur, die ich je gesehen habe." Er wandte sich an den Meister. „Ich bin der Kurator des Metropolitan Museum. Ich kaufe diese Figur." Der Meister schüttelte den Kopf. „Soviel ich weiß, ist sie nicht verkäuflich", sagte er. „Sie soll ein Geschenk für jemanden sein." „Ich muß sie haben", sagte der Kurator. „Sie ist einfach perfekt für das Museum. Ich bezahle eine Million Dollar dafür." Der Meister riß die Augen auf. „Eine Million?" „Richtig." Der Meister dachte nach. Er hatte zwar kein Recht, die Figur zu verkaufen, aber er kannte die Geschichte von Tony und Anna. Wenn Tony eine Million Dollar besaß, konnte er auch seine geliebte Anna heiraten. „Also gut, abgemacht", sagte er. „Sehr schön." Sie gaben sich die Hand. „Ich komme gleich heute mit dem Scheck und hole die Figur ab." Der Meister dachte darüber nach, was er da getan hatte. Es war schon sehr eigenmächtig von ihm, aber er wußte auch, daß er das Richtige getan hatte. Er sorgte schon dafür, daß Tony seine Anna doch noch heiraten konnte. Als der Mann vom Museum am Nachmittag wiederkam, hatte er den Scheck über eine Million Dollar bei sich. Er war mit zwei Männern gekommen, die ihm die Figur in ein Transportauto verladen halfen. „Tony", sagte er, „darf sehr stolz darauf sein. Diese Figur macht ihn berühmt." Als Tony am Nachmittag in die Werkstätte zurückkam, war das erste, was er bemerkte, daß die Figur nicht mehr da war. Er geriet in Panik. „Wo ist die Figur?" fragte er. „Was ist mit ihr passiert?" „Ich habe sie verkauft", sagte der Meister. „Was haben Sie? Das können Sie doch nicht machen! Das ist das Hochzeitsgeschenk für Anna!" Der Meister sagte kopfschüttelnd. „Nein, ist es nicht. Du hast ein viel besseres Hochzeitsgeschenk für Anna." „Wieso, was?" „Dich selber!" sagte der Meister. Und er reichte Tony ein Flugticket nach Italien. „Dies ist mein Geschenk für dich. Du fliegst heute noch heim und heiratest Anna." „Sie sind verrückt", sagte Tony. „Ich bin doch nicht reich." „Bist du eben doch", sagte der Meister. Und er gab Tony den Scheck über eine Million Dollar. „Du bist jetzt Millionär!" Tony stand der Mund ungläubig offen. „Das ist ja wundervoll", stammelte er dann und umarmte den Meister. „Ich danke Ihnen. Ich werde Ihnen das nie vergessen!" Jetzt konnten er und Anna heiraten und viele Kinder haben, die alle schön werden würden. Am selben Abend flog Tony mit dem Flugzeug nach Rom. Nach seiner Ankunft dort am nächsten Morgen nahm er den nächsten Zug zu seinem kleinen Heimatdorf. Und dort ging er direkt zu Annas Haus. „Was machst du denn hier?" fuhr ihn Annas Vater an. „Ich dachte, du bist fortgegangen." „Ich bin zurückgekommen." „Da hast du dir eine schlechte Zeit ausgesucht, Tony. Heute heiratet meine Tochter." „Weiß ich", sagte Tony. „Nämlich, sie heiratet mich." Annas Vater lachte auf. „Du kleiner Verrückter. Du weißt doch ganz genau, daß ich sie niemals einen armen Schlucker heiraten lasse." „Ich bin nicht mehr arm", sagte Tony. „Ich bin jetzt reich. Reicher als der Bankdirektor." Und er zeigte Annas Vater seinen Scheck. Dem fielen fast die Augen heraus. „Was denn, da bist du ja Millionär? Das ist also wahr, was sie immer über Amerika erzählen! Wer dorthin geht, wird Millionär." „Jeder nicht gerade", sagte Tony. „Und jetzt will ich Ihre Tochter sehen." „Aber natürlich!" Annas Vater war auf einmal sehr höflich und freundlich zu Tony. „Ich lasse sie sofort holen!" Als Anna Tony sah, flog sie in seine Arme. Sie hatte bereits ihr wunderschönes weißes Hochzeitskleid an. „O Liebling! Papa hat mir gesagt, was geschehen ist. Ich bin so stolz auf dich!" „Und jetzt heiraten wir", sagte Tony. „Komm." Sie wurden zur Kirche gefahren, und der dortige Pfarrer traute sie. Er hatte keinen blassen Schimmer davon, daß diese Hochzeit nur zustandegekommen war, weil der Bräutigam den zweiten Teil des Ersten Gebots übertreten hatte. Und Tony und Anna lebten glücklich bis an ihr seliges Ende. 11. KAPITEL ELFTES GEBOT: DU SOLLST NICHT LÜGEN. Er hieß David und war wahrscheinlich der ehrlichste Mensch auf der ganzen Welt. Als er noch sehr klein war, hatte sein Vater ihm die Geschichte von George Washington und dem Kirschbaum erzählt. „George Washington war der erste Präsident der Vereinigten Staaten. Als George acht Jahre alt war, ging sein Vater hinaus in den Garten und mußte feststellen, daß sein Lieblingskirschbaum umgeschlagen worden war. >Habt ihr den Kirschbaum umgeschlagen?< fragte er seine Dienstboten. >Nein<, sagten diese. >Hast du den Kirschbaum umgehackt?< fragte er seine Frau. >Nein<, sagte sie. Und schließlich schickte er auch noch nach dem kleinen George. >Hast du den Kirschbaum niedergehackt?< >Ja, Vater. Ich kann nicht lügen.<„ Diese Geschichte beeindruckte David so sehr, daß auch er beschloß, niemals zu lügen, nie und nimmer. Als er in die Schule kam, stellte er fest, daß alle anderen Kinder bei den Prüfungen spickten und mogelten. In einem Moment der Schwäche spickte auch David einmal bei seinem Banknachbarn. Er bekam die Note A dafür, das war die beste Note, die man bekommen konnte. David ging aber dann zu seinem Lehrer und sagte: „Sir, ich kann nicht lügen. Ich habe bei der Prüfung gespickt." Der Lehrer gab David daraufhin eine Null und ließ ihn zur Strafe nachsitzen. Als David mit der Schule fertig war, ging er zusammen mit einigen Freunden zu einer Fabrik, um dort Arbeit zu suchen. „Habt ihr Erfahrung?" fragte der Fabrikleiter. „Selbstverständlich", sagte einer von den anderen. „Eine ganze Menge", sagte ein zweiter. David wußte natürlich, daß sie alle beide logen. Der Werkleiter wandte sich nun auch an ihn. „Und du, hast du Erfahrungen?" „Nein", sagte David. Die anderen wurden eingestellt, David nicht. Als David älter wurde, begann er bei einer Versicherung zu arbeiten. Eines Abends nahm er einige Büroklammern und etwas Schreibmaschinenpapier mit nach Hause. Am nächsten Tag sagte er zu seinem Chef: „Sir, ich kann nicht lügen. Ich habe etwas Papier und Büroklammern gestohlen." Der Chef zog ihm, was es wert war, von seinem Lohn ab. Die anderen Angestellten nahmen ständig irgendwelche Sachen mit, aber meldeten es natürlich nicht. Sie hielten David für einen Narren. „Warum nimmst du die Sachen nicht einfach und hältst den Mund?" fragten sie ihn. Aber David schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht machen. Ich will wie George Washington sein. Ich habe mir vorgenommen, niemals zu lügen." Das konnten sie alle nicht verstehen. David hatte eine Freundin. Sie hieß Kathy, und er liebte sie sehr. „Ich möchte dich heiraten", sagte er. Sie umarmte ihn und antwortete: „Auch ich möchte dich heiraten, Liebling." David war darüber sehr glücklich. Er hatte eine schöne Stellung und ein Mädchen, das er liebte. Wie man sieht, dachte er, zahlt es sich eben doch aus, wenn man immer nur die Wahrheit sagt. Kathy hatte eine Freundin, Betty. Betty war schön und sexy und mochte David sehr gern. Doch David war nicht an ihr interessiert, weil er ja Kathy liebte. Eines Abends, als Kathy zu tun hatte, rief Betty David an und sagte: „David, mein Fernseher ist kaputt. Könntest du nicht mal kommen und ihn mir reparieren?" David hatte nämlich für solche Sachen Talent. „Aber gewiß doch", sagte er. „Gerne." Und er ging zu Betty. Aber das einzige, was mit Bettys Fernseher nicht stimmte, war, daß der Netzstecker herausgezogen war. „Sieh mal", sagte David, „du mußt einfach nur diesen Stecker in die Wand stecken." Er schloß den Strom an, und der Fernseher funktionierte sofort einwandfrei. „Du bist so geschickt", sagte Betty. „Ich kann mir gar nicht denken, wie so etwas möglich ist." Sie kam zu ihm und legte die Arme um ihn. „Ich möchte dir danken, David", sagte sie und küßte ihn. David küßte sie wieder und begriff dann erst, was er da tat. Er machte sich frei und schob sie weg. „Das können wir nicht tun", sagte er. „Wo ich doch Kathy heirate." „Das weiß ich doch", flüsterte Betty. Und sie küßte ihn noch einmal. David sagte: „Ich gehe besser." Wäre David nun einer wie alle gewesen, dann hätte er den Vorfall gar nicht erst erwähnt. Aber mit seiner Ehrlichkeit beschloß er, er müsse die Sache Kathy mitteilen. Beim Essen am nächsten Tag in einem Lokal sagte er also zu Kathy: „Ich muß dir etwas sagen, Kathy." „Ja, Liebling?" „Gestern abend war ich in Bettys Wohnung, und wir haben uns geküßt." Kathy starrte ihn an. „Was habt ihr?" „Ich wollte sie eigentlich nicht küssen. Es ist einfach so passiert. Das verstehst du doch, oder?" „Selbstverständlich", sagte Kathy und schüttete ihm ein Glas Wasser ins Gesicht. „Aber Kathy ..." Doch Kathy war schon aus dem Lokal davon gerannt. David rief sie noch am selben Tag an und am Tag darauf ebenfalls und in der nächsten Woche und im nächsten Monat. Aber sie antwortete niemals. Das hatte David nun von seiner Ehrlichkeit. Aber entmutigte ihn das? Kein bißchen. Alle sagten, er sei ein Narr, weil er ständig so unbedingt ehrlich sein wolle, und daß man nun einmal ab und zu einfach lügen müsse. Doch daran glaubte David nicht. „Nein, ich werde niemals, unter keinen Umständen, über irgend etwas lügen", beharrte er. Und er gedachte dies auch einzuhalten, was auch komme. Eines Abends ging er an einem Juwelierladen vorbei, als er das Geräusch von brechendem Glas hörte. Er sah sich um, was da passierte. Ein Mann kam angerannt und an ihm vorbei. David konnte sein Gesicht gut erkennen. Der Mann sah verängstigt aus. Gleich darauf kam ein Polizeiauto mit heulender Sirene daher. Es hielt bei David an. In dem Juwelierladen war die Schaufensterscheibe eingeschlagen, und alle Schmuckstücke in der Auslage waren gestohlen. Ein Polizist stieg aus dem Auto und sagte zu David: „Haben Sie gesehen, was passiert ist?" „Nein", sagte David. „Ich habe nur gehört, wie die Schaufensterscheibe eingeschlagen wurde. Und dann rannte ein Mann vorbei." „Haben Sie ihn deutlich gesehen?" „Ja", sagte David. Das Gesicht des Polizisten hellte sich auf. „Sie könnten ihn also identifizieren?" „Natürlich", sagte David. „Ich habe ihn ziemlich gut sehen können." Der Polizist schrieb Davids Namen, Adresse und Telefonnummer auf und sagte: „Wenn wir den Räuber finden, hören Sie von uns. Dann brauchen wir Sie, um ihn zu identifizieren." „Das tue ich dann gerne", sagte David. Es verging eine Woche, ohne daß etwas passierte. Dann aber bekam David am Montagmorgen einen Anruf. „Wir glauben, den Mann zu haben, der den Juwelierladen ausraubte. Könnten Sie vorbeikommen und ihn identifizieren?" „Ich bin sofort da", sagte David. Als er in das Polizeigebäude kam, sagte einer der Kriminalbeamten zu ihm: „Das ist sehr gut, daß Sie den Mann so genau gesehen haben, denn Sie sind der einzige Zeuge, den wir haben. Sie sind sich ganz sicher, daß sie ihn wiedererkennen, wenn Sie ihn sehen?" „Absolut", sagte David. „Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis." „Also gut, dann kommen Sie." . Und man geleitete ihn in ein Zimmer, wo der Mann saß. „Ist das der Mann, den Sie von dem Juwelierladen weglaufen sahen?" David nickte. „Ja, das ist er." „Kein Zweifel?" „Nicht der geringste", sagte David. „Vielen Dank." Und der Beamte sagte zu einem Aufseher: „Abführen." Der Mann starrte David an, und da tat er David leid. Er war verantwortlich dafür, daß er nun ins Gefängnis kam. Aber David konnte nun einmal nicht lügen. Eine Woche später bekam David einen seltsamen Anruf. Eine Stimme am Telefon sagte: „Hier spricht der Mann, den Sie als den Räuber identifiziert haben." David war sehr überrascht. „Ach ja? Und Was wollen. Sie?" „Ich bin gegen Kaution frei", sagte der Mann, „und die Verhandlung gegen mich ist nächste Woche. Ich muß mit Ihnen reden." David wußte nicht, was das bedeuten sollte. „Worüber wollen Sie denn mit mir reden?" „Sie haben einen schrecklichen Fehler gemacht" sagte der Mann. „Wieso, was denn für einen Fehler?" „Wo können wir uns treffen?" sagte der Mann und nannte gleich darauf ein Restaurant. „Kommen Sie morgen um eins dorthin." David hielt das für keine so besonders gute Idee, aber falls er wirklich einen Fehler gemacht haben sollte, wollte er ihn korrigieren. „Na gut", sagte er, „ich komme." Am nächsten Tag um eins wartete er wie verabredet in dem Restaurant. Und gleich danach kam auch der Mann, den er als den Dieb identifiziert hatte.. Er setzte sich David gegenüber. „Ich heiße Henry", sagte der Mann. „Ich bin David." „Ich weiß schon, wer Sie sind. Sie sind der, der versucht, mein Leben zu ruinieren." „Nur, weil ich die Wahrheit gesagt habe?" Der kleine Mann beugte sich zu ihm vor. „Genau darum geht es. Was Sie gesagt haben, war nicht die Wahrheit. Sie haben gelogen. Sie haben der Polizei gesagt, ich hätte den Juwelierladen ausgeraubt." „Aber ich war es nicht." „Ich habe Sie doch davonlaufen sehen", sagte David. „Daß ich wegrannte, weiß ich selber", sagte Henry, aber ich habe den Juwelierladen nicht ausgeraubt." David war verwirrt. „Warum sind Sie dann davongerannt?" Der kleine Mann sagte: „Schauen Sie, fast würde ich lieber ins Gefängnis gehen, als daß die Wahrheit herauskommt." Er zögerte ein wenig, bevor er weitersprach. „Ich bin verheiratet, wissen Sie. Sind Sie verheiratet?" David dachte an Kathy und wie er fast mit ihr verheiratet gewesen wäre. „Nein", sagte er. „Sehen Sie, meine Frau ist furchtbar eifersüchtig. Ihre beste Freundin heißt Elsie. Elsie und ich fühlten uns sehr zueinander hingezogen, und eines führte zum anderen, und im Handumdrehen hatten wir eine Affäre miteinander. Sie wissen hoffentlich, daß so etwas immer mal vorkommt." David dachte an den Abend mit Betty und nickte.. „Ja." „Wenn meine Frau erfahren würde, daß ich eine Affäre mit EIsie habe, würde sie uns beide umbringen. Also jedenfalls, als Sie mich vorbeirennen sahen, kam ich gerade aus Elsies Wohnung. Ich hörte, wie jemand eine Scheibe in dem Juwelierladen einschlug, und es war mir klar, daß gleich die Polizei da sein würde. Ich wollte aber nicht, daß sie auch mich befragte, weil dann, mein Name in die Zeitungen käme und meine Frau daraus erfahren hätte, was los war. Also rannte ich weg. Dabei haben Sie mich gesehen." David war verwundert. „Und das ist die Wahrheit?" „So wahr mir Gott helfe. Sie können Elsie anrufen und fragen. Nachdem Sie mich identifiziert haben, hat die Polizei ein Geständnis aus mir herausgeprügelt. Man zwang mich, das Protokoll zu unterschreiben, daß ich den Laden ausgeraubt hätte. Aber es ist eine Lüge. Ich bin unschuldig. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts gestohlen." Da hätte ich den Mann ja um ein Haar ins Gefängnis gebracht, dachte David. „Das tut mir furchtbar leid", sagte er, „das konnte ich nicht wissen." „Wenn Sie gegen mich aussagen, bekomme ich zehn Jahre Gefängnis. Mein ganzes Leben ist dann zerstört. Ich kann aber nicht sagen, wie es wirklich war, weil es dann auch meine Frau erfährt und sich scheiden läßt." „Was soll ich tun?" fragte David. „Sie könnten aussagen, daß Sie doch nicht sicher seien, ob ich der Mann wäre, den Sie gesehen haben." „Aber das wäre eine Lüge", sagte David. „Es liegt bei Ihnen", sagte Henry. „Sie können entweder die Wahrheit sagen und damit einen Unschuldigen ins Gefängnis bringen, oder mit einer kleinen harmlosen Lüge meinen Ruf und meine Ehe retten. Es ruht auf Ihrem Gewissen." Henry stand auf und ging. Zwei Tage vor dem Prozeß wurde Henry noch einmal von einem Kriminalbeamten befragt. „Also, hören Sie", sagte der Beamte, „Sie haben Schmuck im Wert von hunderttausend Dollar gestohlen. Seien Sie doch klug! Sie sagen uns, was Sie damit gemacht haben, und wir üben Nachsicht. Wir schlagen dem Richter ein mildes Urteil vor. „ „Ich kann Ihnen aber nichts sagen", rief Henry, „weil ich den Schmuck nicht gestohlen habe!" „Ach, kommen Sie. Halten Sie uns doch nicht zum Narren. Sie haben die Beute natürlich irgendwo versteckt. Wenn Sie nicht reden; könnten Sie zehn Jahre kriegen. Wenn Sie es uns aber sagen, ist es vielleicht mit einem oder zwei Jahren getan. Also was meinen Sie?" Doch Henry wiederholte nur: „Wirklich, ich kann nichts sagen, weil ich nicht der Dieb dieses Schmucks bin." Der Kriminalbeamte meinte kopfschüttelnd: „Na gut, wie Sie wollen. Aber Sie sind dumm, Sie machen es sich nur selbst schwer. Wir werden dem Richter raten, Sie ins tiefste Gefängnis schaffen und den Schlüssel dazu wegwerfen zu lassen." Der Prozeß begann am Mittwochmorgen. David war als Zeuge für die Anklage geladen und erschienen. Er war sogar der einzige Zeuge überhaupt. Der Richter kam herein und setzte sich auf seinen Platz. „Die Sitzung ist eröffnet!" rief der Saalwachtmeister. Es trat Stille ein. Die Verhandlung begann. Der Staatsanwalt beschrieb den Hergang des Verbrechens und wie das Schaufenster des Juwelierladens eingeschlagen wurde, woraufhin der Dieb aus der Auslage Schmuck im Wert von hunderttausend Dollar raubte und davonrannte. Henrys Anwalt hob dagegen als Verteidiger hervor, daß es keinen schlüssigen Beweis dafür gebe, sein Mandant, der Angeklagte, habe dieses Verbrechen begangen. „Wir haben aber einen Zeugen", sagte der Staatsanwalt, „der gesehen hat, wie der Angeklagte vom Tatort wegrannte. Ich rufe ihn hiermit auf." Davids Name wurde ausgerufen. David begab sich in den Zeugenstand. „Also", sagte der Staatsanwalt, „würden Sie dem Gericht zunächst Ihren Namen sagen?" David sagte ihn. „Und was für eine Berufstätigkeit üben Sie aus?" „Im Augenblick bin ich arbeitslos", sagte David. Tatsache war, David war vor einer Woche entlassen worden, weil er entdeckt hatte, daß sein Vorgesetzter Geld von der Firma unterschlug. Aber als er das dem Firmenchef gemeldet hatte, hatte dieser ihn entlassen. „Was taten Sie an dem fraglichen Abend der Tat?" fragte er Staatsanwalt. „Ich hatte eine Stellenanzeige für eine Abendtätigkeit gelesen", sagte David, „und war dabei, mich dort zu bewerben." „Haben Sie die Stelle bekommen?" „Nein." Die Stelle war bei einer Bäckerei gewesen. Er war hineingegangen und hatte dem Bäcker gesagt, hier in seiner Bäckerei sei es aber ziemlich schmutzig. Daraufhin hatte ihn der Bäcker gleich wieder hinausgeworfen. „Sie waren also gerade bei diesem Juwelierladen, als dessen Schaufensterscheibe eingeworfen wurde?" „Ja." „Wenn Sie den Geschworenen den fraglichen Mann bitte zeigen wollen." David wandte sich um und sah Henry an. Wenn Sie gegen mich aussagen, bekomme ich zehn Jahre Gefängnis. „Ich...", stotterte er. „Ja, was?" „Ich..." Mein ganzes Leben ist dann zerstört. „Wir können Sie nicht hören, Herr Zeuge! Würden Sie bitte auf den Mann zeigen, den Sie weglaufen sahen ?" Und zum erstenmal in seinem Leben log David nun. „Er ist nicht hier", sagte er. Der Staatsanwalt starrte ihn verblüfft an. „Wie war das?" „Er ist nicht hier", bekräftigte David. Der Staatsanwalt fiel fast vom Stuhl. „Was, bitte, soll das heißen, er ist nicht hier? Sie haben ihn doch bereits identifiziert! Bei der Polizei haben Sie doch ausgesagt, daß dies dort der Mann war!" Und er deutete auf Henry. „Ich könnte mich geirrt haben", sagte David. Der Staatsanwalt traute seinen Ohren nicht. ganze Anklage hing von Davids Aussage ab. „Wollen Sie dem Gericht weismachen, daß Sie noch vor einer Woche den Angeklagten einwandfrei als den Mann identifizierten, der von dem Juwelierladen weggerannt ist, ihn aber heute nicht mehr erkennen?" „Richtig", sagte David. Sie können entweder die Wahrheit sagen und damit einen Unschuldigen ins Gefängnis bringen, oder mit einer kleinen harmlosen Lüge meinen Ruf und meine Ehe retten. „Nein, ich erkenne ihn nicht wieder." Der Verteidiger war bereits aufgesprungen. „Euer Ehren, Einspruch! Der Staatsanwalt bedrängt den Zeugen. Wenn dieser erklärt, er kann den Angeklagten nicht identifizieren, dann kann er ihn eben nicht identifizieren." „Einspruch stattgegeben", entschied der Richter und wandte sich an den Staatsanwalt. „Herr Staatsanwalt, der Zeuge hat bereits ausgesagt, daß er den Angeklagten nicht identifizieren kann. Fahren Sie also fort mit lhrem Fall." Aber es gab ja nun keinen Fall mehr. Ohne Davids Aussage konnte Henry nicht einmal in die Nähe des Tatorts gebracht werden. Der Staatsanwalt sah David böse an und erklärte angewidert: „Keine weiteren Fragen." Der Verteidiger erhob sich. „Euer Ehren, noch niemals habe ich einen so unverfrorenen Versuch erlebt, einen Unschuldigen ins Gefängnis zu bringen. Der Staatsanwalt hat keinen Hauch von Beweis und will meinen Mandanten dessen ungeachtet verurteilt sehen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich wundere mich, wie er überhaupt die Stirn hatte, den Fall vor Gericht zu bringen. Ich beantrage die Einstellung des Verfahrens." Der Richter klopfte mit seinem Hammer. „Dem Antrag wird stattgegeben. Der Angeklagte ist hiermit frei. Meine Damen und Herren Geschworenen, das Gericht dankt Ihnen für Ihre Zeit. Die Sitzung ist geschlossen." Henry strahlte. Er sah dankbar zu David hinüber. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich gelogen, dachte David. Aber damit habe ich immerhin einem Mann seinen Ruf und seine Ehe gerettet. Das war es wert. Selbst George Washington hätte mir vergeben. Er saß in seiner Wohnung und las die Stellenanzeigen. Er brauchte dringend Arbeit und hatte kein Geld mehr für die Miete. Da klopfte es an der Tür. „Herein", rief er. Die Tür ging auf und herein kam Henry. „Hallo. Ich wollte mich nur noch kurz bedanken." „Ich habe getan, was richtig war", sagte David. „Ich konnte doch keinen Unschuldigen ins Gefängnis schicken." Henry schüttelte David die Hand. „Sie haben wirklich das Richtige getan. Und ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich das schätze." „Ach, es war doch das mindeste, was ich tun konnte", meinte David. „Ich meine, wenn man an Sie und Ihre Ehe und Elsie denkt... da konnte ich das doch nicht zulassen." „Ich will mich auch erkenntlich zeigen", sagte Henry. Und er griff in die Tasche und holte zwei große Diamantarmbänder hervor. „Hier ist Ihr Anteil", sagte er. „Sie sind mindestens zwanzigtausend wert." David starrte ungläubig auf die Schmuckstücke. „Augenblick mal", sagte er, „soll das heißen, Sie haben den Schmuck tatsächlich gestohlen?" Aber da war Henry schon wieder verschwunden. David stand da und sah auf den Schmuck. Ich müßte das zur Polizei tragen, dachte er. So hätte es George Washington gemacht. Doch dann dachte er: Ach, zum Teufel mit George Washington! 12. KAPITEL ZWÖLFTES GEBOT: DU SOLLST DEINEN MITMENSCHEN KEIN LEID ZUFÜGEN. Robert war ein Hüne. Schon als kleiner Junge war er sehr groß für sein Alter gewesen. Sein Vater war Polizist. Er war ebenfalls sehr groß, aber wenn er auf seinen Sohn geblickt hatte, als dieser noch klein war, hatte er immer gesagt: „Der Junge wird einmal noch größer als ich." Und er hatte recht gehabt. Mit zehn Jahren war Robert bereits der weitaus Größte in seiner Klasse. Er war sehr fromm und nahm deshalb das Zwölfte Gebot, Du sollst deinen Mitmenschen kein Leid zufügen, sehr ernst. Die kleineren Jungs zettelten gern Streit mit ihm an, weil sie genau wußten, daß er sich nicht wehrte. Sie merkten mit der Zeit, daß sie alles mit ihm machen konnten. Sie stießen, traten und triezten ihn, und er ließ sich alles gefallen. Er lächelte nur und fragte lediglich: „Warum macht ihr das?" „Weil du ein Feigling bist!" schrien sie ihm dann zu. Sie hatten mächtigen Spaß daran, Robert alles mögliche anzutun. Kam Robert mit einem blauen Auge nach Hause, dann schimpfte ihn sein Vater tüchtig aus. „Wieso läßt du dir alles gefallen? Du bist der Größte in der ganzen Klasse, da kannst du sie doch leicht alle vermöbeln! Warum wehrst du dich nicht?" „Eben weil ich der Größte in der Klasse bin", sagte Robert dann. „Das wäre doch nicht fair den anderen gegenüber. Sie könnten davon schwer verletzt werden." Sein Vater schämte sich richtig für ihn. Nach seiner Ansicht war sein Sohn ein Feigling. Und er haßte Feiglinge. Er sprach mit seiner Frau. „Ich weiß nicht, was mit unserem Sohn los ist. Er ist ein Riesenbursche, stark wie ein Bär, und er läßt sich von der ganzen Schule zurichten. Ich habe ihn doch nun wirklich nicht zu einem Feigling erzogen." Aber die Mutter verteidigte Robert. „Ich glaube nicht, daß Robert ein Feigling ist. Ich denke, er will nur niemandem etwas zuleide tun." „Ich werde ihn mir einmal vornehmen", sagte der Vater. Als Robert am nächsten Tag von der Schule heimkam, sagte sein Vater: „Wollen wir zusammen fernsehen, mein Junge?" „Gern", sagte Robert. Sie setzten sich vor den Fernseher, und Roberts Vater schob eine Kassette in den Videorecorder ein. Es war der Film Rocky. Robert sah angewidert zu, wie der Star sich in einer Tour prügelte, aber auch selbst zusammengeschlagen wurde. Er stand auf. „Ich kann das nicht mitansehen, Vater." „Ach was, natürlich kannst du das", schrie ihn sein Vater an. „Setz dich wieder hin!" Der nächste Film war noch übler. Es war ein Krimi von Leuten, die Raubüberfälle auf offener Straße verübten. „Das ist ja scheußlich", sagte Robert. „Es ist die wirkliche Welt", sagte sein Vater, „und du mußt lernen, in ihr zurechtzukommen. Du kannst nicht einfach so tun, als gäbe es keine Gewalt." Dann spielte er auch noch einen Kriegsfilm und zwang Robert, ihn sich anzusehen. Aber wenn er gehofft hatte, Robert damit zu überzeugen, daß Gewalt etwas Normales sei, so hatten diese Filme genau den gegenteiligen Effekt. Robert war nun entschlossener denn je, sich nie auf irgendeine Art Gewalt einzulassen. Nie, nie, nie, dachte er. Sein Vater aber sagte: „Vielleicht ändert sich noch alles, wenn er erst in der High School ist." Es änderte sich in der Tat, als Robert in die High School kam. Aber zum noch Schlechteren. Robert verliebte sich ganz schrecklich in ein Mädchen namens Amy. Das Problem war, daß alle anderen Jungs ebenfalls in Amy verliebt waren. Sie war Cheerleader und jung, schön und intelligent obendrein. Robert begleitete sie oft nach der Schule nach Hause, aber die anderen Jungs wollten es ihm immer vermiesen. Wenn Robert und Amy auf dem Gehsteig dahingingen, kamen die anderen vor sie hingesprungen und hielten sie an. „Würdet ihr uns bitte vorbeilassen?" bat Robert dann höflich. „Nein!" kreischten die Jungs. Und einer schubste Robert dann, oder die anderen drangen auf ihn ein und stießen ihn. Amy stand immer hilflos dazwischen und sah zu, wie Robert sich verprügeln ließ. Sie wurde wütend auf ihn. „Wieso wehrst du dich eigentlich nicht gegen die ?" fragte sie. „Das geht nicht", sagte Robert. „Ich bin größer als sie alle, und da könnte ich sie leicht schwer verletzen, womöglich sogar einen töten." Aber Amy glaubte ihm nicht. „Du bist einfach ein Feigling", sagte sie. Und sie gab ihm den Ring zurück, den er ihr geschenkt hatte. „Ich kann keinen Feigling heiraten." Das brach Robert das Herz. Er liebte Amy sehr, aber er wußte, daß es unrecht war, Gewalt anzuwenden. Nie könnte ich das Zwölfte Gebot übertreten, dachte er bei sich. Der Football-Trainer der Schule war ganz entzückt, als er Robert zum erstenmal sah. Einen solchen Schrank von Burschen konnte er gut gebrauchen, zumal Robert flink auf den Beinen war und ein geborener Athlet. „Ich mache dich zum Kapitän der Football-Mannschaft", sagte er zu Robert. Robert fühlte sich sehr geehrt. „Das ist wunderbar, Sir." Die Football-Mannschaft war für die Schule sehr wichtig. Alle waren stolz auf sie. Und der Trainer war sich sicher, daß sie mit Robert als Kapitän ein bedeutendes Jahr vor sich haben würden. Beim ersten Spiel gegen eine andere Schule lief Robert mit dem Ball über das gesamte Spielfeld. Ein Verteidiger von der anderen Mannschaft kam auf ihn zu. Aber statt daß er ihn einfach wegstieß, ließ sich Robert von ihm attackieren und zu Fall bringen. In der Halbzeit schrie der Trainer Robert an: „Wieso läßt du dich von dem zu Fall bringen? Wieso hast du ihn nicht einfach weggestoßen?" „Ich fürchtete, ich würde ihm wehtun", sagte Robert. Der Trainer traute seinen Ohren nicht. „Waas hast du befürchtet? Was, glaubst du eigentlich, ist Football? Ein Kaffeekränzchen?" Er entschied, daß Robert als Verteidiger weiterspielen sollte, um selbst Gegenspieler zu Fall zu bringen. Das Problem war nur, daß Robert sich weigerte, gegnerische Spieler zu Fall zu bringen. „Was ist los mit dir?" fragte ihn der Trainer hinterher. „Wir haben deinetwegen das Spiel verloren. Dabei warst du doch in einer idealen Situation, den Mann zu Fall zu bringen!" „Das weiß ich", sagte Robert, „aber wenn ich ihn zu Fall gebracht hätte, hätte ich ihn vielleicht verletzt." „Du fliegst raus aus der Mannschaft!" brüllte der Trainer. Als Roberts Vater davon hörte, wurde er fuchsteufelswild. „Was ist nur los mit dir?" schrie er Robert an. „Als ich auf der Schule war, war ich ein prima Footballspieler. Ich hoffte, du würdest in meine Fußstapfen treten. Magst du Football denn nicht?" „Doch, sehr sogar", sagte Robert. „Nur-" „Ja, ja, ich weiß schon", sagte sein Vater, „aber du möchtest keinem wehtun." Bei allen in der Schule war Robert jetzt unten durch, weil er sie ihrer Ansicht nach im Stich gelassen hatte. Wenn er nicht gewesen wäre, hätten sie sich für die Meisterschaft qualifiziert. Eines Morgens, als Robert seinen Garderobenspind öffnete, sah er, daß man ihm ein gelbes Schild auf die Tür geklebt hatte: „FEIGLING!" Einige Jungs beobachteten ihn dabei. „Was willst du dagegen tun?" fragten sie ihn. „Gar nichts", sagte Robert gelassen. Er hatte nicht die Absicht, sich von irgendwem zu einer Schlägerei provozieren zu lassen. Er hatte stets das Zwölfte Gebot im Sinn: Du sollst deinen Mitmenschen kein Leid zufügen. Als Robert mit dem College fertig war, sagte sein Vater zu ihm: „Ich habe mit dem Polizeichef über dich gesprochen. Sie nehmen dich auf." Er lächelte seinen Sohn an. „Vater, ich möchte nicht zur Polizei." Sein Vater wurde zornig. „Was denn? Ist die Polizei nicht gut genug für dich?" „Natürlich ist sie das, Vater. Aber ich könnte niemals Polizist werden." „Und warum nicht?" Aber er wußte die Antwort ohnehin schon im voraus. „Weil ich da Menschen etwas antun müßte" Jetzt hatte sein Vater endgültig genug. „Du bist eine Schande, ich schäme mich für dich schrie er ihn an. „Solange ich denken kann, warst du, ein Feigling, schon als kleines Kind. Ewig mußte ich zusehen, wie die anderen dich verprügelt haben und du nicht einmal versucht hast, dich zu wehren. In der Football-Mannschaft, in der High School hast du dich geweigert, ordentlich zu spielen. Du bist und bleibst einfach nur ein Feigling. Und ein Lügner bist du obendrein. Dauernd sagst du, es ist, weil du keinen verletzen willst. Aber die Wahrheit ist doch, daß du Angst hast, selbst verletzt zu werden." „Glaube mir, Vater, so ist das nicht..." „Ach was, ich habe genug. Geh mir aus den Augen und aus dem Haus. Ich will dich nicht mehr sehen, verstanden? Ich schäme mich für dich." Robert war über das alles sehr gebrochen. Er sagte die Wahrheit, aber niemand wollte ihm glauben. Haben sie denn alle, fragte er sich, noch nie etwas vom Zwölften Gebot gehört, Du sollst deinen Mitmenschen kein Leid zufügen? Am nächsten Morgen verließ er sein Elternhaus. Aber vor dem Abschied hatte er noch ein Gespräch mit seiner Mutter. „Ich sehe es gar nicht gern, daß du fortgehst, mein Sohn", sagte sie. „Aber dein Vater will dich nicht mehr im Haus haben." Sie umarmte ihn und versicherte: „Ich halte dich nicht für einen Feigling, mein Junge." „Danke, Mutter." Robert zog in ein kleines Apartment und sah sich nach einer Stellung um. Er fand eine in einem Supermarkt. Viel verdiente er dort nicht, aber zumindest war er sicher, daß er dort nie in Gefahr käme, jemandem ein Leid anzutun. Im selben Supermarkt arbeitete auch ein sehr hübsches Mädchen namens Jenny. Robert und Jenny begannen miteinander auszugehen, und nach einiger Zeit machte Robert Jenny einen Antrag. Sie nahm an, und sie heirateten. Jenny hielt ihren Mann für den wundervollsten der Welt. Er sah gut aus und war intelligent und gutmütig. Sie führten eine sehr glückliche Ehe. Sie bekamen einen Sohn. Und damit fingen die ganzen Schwierigkeiten an. Ihr kleiner Junge, er hieß Louis, kam eines Tages mit einem blauen Auge und einer blutigen Nase aus der Schule. Jenny war entsetzt. „Wer war das?" fragte sie. „Einer der Jungs in der Schule." Der Junge, der Louis verprügelt hatte, war viel älter. Als Robert nach Hause kam, erzählte ihm Jenny, was passiert war. „Du mußt mit dem Vater dieses Jungen reden!" sagte sie. „Na gut." Robert suchte den Mann auf. Dieser war klein und schmächtig, viel kleiner als Robert. „Tut mir leid, Sie zu belästigen", sagte Robert höflich, „aber unsere bei den Jungs haben sich anscheinend in die Wolle gekriegt." „Na und? Alle Jungs prügeln sich." „Ich weiß, aber das war nicht fair", sagte Robert. „Ihr Sohn ist viel älter als mein Louis. Er sollte das nicht tun: und ihn in Ruhe lassen." „Wer sagt, er hat angefangen? Ihr Louis hat angefangen." „Das glaube ich nicht", sagte Robert. „Was, nennen Sie meinen Sohn einen Lügner?" ereiferte sich der Mann. Und er versetzte Robert einen Schlag ins Gesicht. Aber Robert schlug nicht zurück. Er sagte nur: „Das hätten Sie nicht tun sollen." Doch der Mann schlug ihn noch einmal. „Also, wirklich", sagte Robert, „das ist nun echt nicht nötig." Da hatte er schon wieder eine. Als er nach Hause kam, hatte er zwei blaue Augen und eine blutige Nase. Jenny war wieder entsetzt. „Was ist passiert?" „Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit dem Vater dieses Jungen", sagte Robert. „Na, hoffentlich hast du ihn nicht zu sehr verletzt." „Nein", beruhigte Robert sie, „habe ich nicht." Doch als Jenny dann erfuhr, was wirklich vorgefallen war, war sie erst recht außer sich. „Willst du sagen, du bist einfach dagestanden und hast dich schlagen lassen?" „Ja", sagte Robert, „ich hatte nichts gegen ihn." „Du hattest nichts gegen ihn? Was bist du eigentlich für ein Mann? Erst läßt du zu, daß der Sohn von diesem Menschen unseren Louis verprügelt, und dann läßt du dich auch noch selbst verhauen!" Robert versuchte zu erklären: „Das Zwölfte Gebot -" „Dein blödes zwölftes Gebot ist mir völlig schnurz!" sagte seine Frau. Und sie stürmte aus dem Zimmer. In der Schule verspotteten alle Kinder Louis, weil sein Vater so ein Feigling war. Der Junge, der ihn vermöbelt hatte, sagte: „Mein Vater hat deinen Vater verdroschen, und der hat sich nicht einmal gewehrt." „Mein Vater ist ein tapferer Mann", sagte Louis. Als Robert an diesem Abend heimkam, sagte Louis zu ihm: „Dad, du hast doch keine Angst zu kämpfen, oder?" „Natürlich nicht", sagte Robert. „Ich halte es nur für falsch." Louis besah sich die beiden blauen Augen und die blutige Nase seines Vaters. Und er dachte: Mein Vater ist tatsächlich ein Feigling. Robert war sehr verunsichert. Er dachte: Mache ich etwas falsch? In meinem Leben bin ich immer nur in Schwierigkeiten gekommen, weil ich Gottes Gebote einhalte. Am nächsten Sonntag ging er zur Beichte. „Pater, ich habe gesündigt." Der Priester sagte: „Was für eine Sünde hast du begangen, mein Sohn?" „Ich habe das Zwölfte Gebot gehalten." Ein langes Schweigen folgte. Dann sagte der Priester: „Ich verstehe nicht. Du hast gesündigt, weil du das Zwölfte Gebot gehalten hast?" „Ja, das glaube ich", sagte Robert. „Ich bin ziemlich verwirrt. Die Bibel sagt, ich soll keine Gewalt anwenden, und doch hassen mich alle, weil ich mich daran halte. Irgend etwas muß falsch daran sein. Schon in der Schule mochten mich alle nicht. Dann habe ich meine Freundin deshalb verloren. Und mein Vater warf mich aus dem Haus. Jetzt halten meine Frau und mein Sohn mich für einen Feigling. Ich weiß nicht mehr, wie ich mich verhalten soll." „Gottes Gebote einzuhalten kann niemals falsch sein", sagte der Priester. „Wenn du deshalb das Zwölfte Gebot brichst, werden schlimme Dinge geschehen." Jenny war derart aufgebracht über die Feigheit ihres Mannes, daß sie sich entschloß, sich scheiden zu lassen. Ich liebe ihn zwar, dachte sie, aber ich darf nicht mit einem Mann leben, der nicht einmal für seinen Sohn eintreten kann. Ich muß ihm sagen, daß ich mich scheiden lassen will. Weil Louis zu Hause war und sie vor ihm nichts davon erwähnen wollte, sagte sie zu Robert: „Gehen wir zum Essen aus heute abend. Ich muß mit dir reden." „Na gut." Robert ließ sich in einem sehr hübschen Restaurant einen Tisch reservieren und führte seine Frau dorthin aus. Jenny war nervös und unruhig. Es war ihr klar, daß sie Robert sehr verletzen würde, aber daß sie auch keine andere Wahl hatte. „Robert", sagte sie, „ich muß dir etwas sagen." Am Nebentisch saßen vier Männer. Sie waren betrunken und laut. Einer war ein Riesenkerl, noch größer als Robert. Er kam Robert bekannt vor. Er starrte dauernd Jenny an. „He", rief er herüber, „du bist aber schön, weißt du das?" Jenny versuchte, ihn zu ignorieren. „Robert", begann sie noch einmal, „ich weiß, das ist jetzt schwierig, aber -" „Was willst du mit dem Kerl da?" rief der Betrunkene vom Nebentisch Jenny zu. „Einer wie ich würde viel besser zu dir passen." Robert wurde allmählich ärgerlich. Er schaute zu dem KrakeeIer hinüber und sagte: „Hören Sie, wir möchten hier friedlich speisen, ja? Warum lassen Sie uns nicht einfach in Ruhe?" Der Mann stand auf. „Nun hört euch den an. Will der mir Vorschritten machen. Du halbe Portion, du. Paß auf, daß ich dich nicht auseinandernehme!" „Bitte", sagte Robert, „machen Sie hier keine Szene. Setzen Sie sich wieder hin und -" „Wer bist denn du, daß du mir anschaffen willst, was ich zu tun habe, hä?" stänkerte der andere weiter. Er kam herüber, stellte sich vor ihnen auf und legte Jenny die Hände auf die Schultern. „Du bist wirklich schön, Baby", sagte er. Robert sagte ganz ruhig: „Würden Sie bitte Ihre Hände von meiner Frau nehmen?" „Deine Frau? Dieses schöne Wesen hat einen Armleuchter wie dich geheiratet?" Er sah Jenny an. „He, Baby, warum kommst du nicht rüber zu uns? Wir gehen noch wohin und amüsieren uns miteinander." Jenny war alles sehr peinlich. Sie sah Robert an. „Bitte, Robert, nun tu doch endlich etwas, daß er mich in Ruhe läßt!" Robert sagte höflich: „Sir, bitte, würden Sie uns allein lassen?" Aber der große Kerl lachte nur.. „Habt ihr das gehört?" Er imitierte Robert übertrieben. „>Sir, bitte,. würden Sie uns allein lassen?< Was für eine armselige Figur bist du denn?" Er zog Jenny hoch. „Nun komm schon, Baby, amüsieren wir uns miteinander." „Entschuldigen Sie", sagte Robert, „wirklich, das sollten Sie nicht tun." Und er stand auf. Der Grobian packte ihn lediglich und drückte ihn zurück auf seinen Stuhl. „Du bleibst hier. Deine Frau und ich haben noch Verschiedenes miteinander zu klären." Er begann, Jenny mit sich zum anderen Tisch zu ziehen. „Robert!" rief Jenny. Jetzt reichte es Robert endlich. Seine gesamte Frustration all der vergangenen Jahre kochte über. Zum Teufel mit dem Zwölften Gebot! dachte er. Er stand auf und sagte: „Sie sollen sie loslassen!" „Und wer will mich dazu zwingen?" höhnte der andere. „Ich." Und zum erstenmal in seinem Leben begab sich Robert in eine Schlägerei. Wie der Blitz fuhr dem ungehobelten Burschen seine Faust ins Gesicht. Der ließ Jenny los und stürzte sich auf Robert. Sie holten beide gleichzeitig aus, und ihre Schwinger trafen direkt aufeinander. Alle Gäste des Lokals erstarrten und sahen zu, wie die beiden aufeinander eindroschen. Der Geschäftsführer versuchte, dazwischenzugehen, aber es war unmöglich. Die beiden Hünen machten es untereinander aus, und nichts konnte sie dabei stoppen. Ihr Kampf dauerte fast zehn Minuten lang und endete, als Robert den anderen mit einem Aufwärtshaken zu Boden schickte, wo er besinnungslos liegenblieb. Einer der Männer vom anderen Tisch sah es völlig ungläubig mit offenem Mund. Er schaute Robert an und sagte: „Wissen Sie eigentlich, wen Sie da gerade k.o. geschlagen haben? Den Boxweltmeister im Schwergewicht!" Am nächsten Morgen waren die Schlagzeilen der Zeitungen voll von Roberts Tat. BOXWELTMEISTER K.O.GESCHLAGEN! Jenny umarmte ihren Mann und sagte: „Liebling, ich bin so stolz auf dich!" Sie hatte völlig vergessen, daß sie mit Robert in dem Lokal über Scheidung reden wollte. Am nächsten Tag bekam Robert einen Anruf vom Manager des Boxweltmeisters. „Der Champion sagt, Sie konnten ihn nur deshalb niederschlagen, weil er nicht mehr nüchtern war. Er will einen richtigen Kampf gegen Sie im Madison Square Garden, damit er der Welt zeigen kann, daß ihn niemand schlägt. Sind Sie einverstanden?" „Warum nicht?" sagte Robert. Er hatte das Zwölfte Gebot ohnehin schon übertreten. Da hatte er nichts mehr zu verlieren, fand er. So kam es, daß Robert ein Vierteljahr später gegen den amtierenden Weltmeister im Schwergewicht in den Ring stieg. Alle waren dabei, Jenny, Roberts Eltern und Louis und selbst Amy. Und sie wurden alle nicht enttäuscht. Robert schlug den Weltmeister in der dritten Runde k.o. und wurde selbst Schwergewichtsweltmeister. In den nächsten fünf Jahren besiegte er jeden Herausforderer und verdiente mehr als zwanzig Millionen Dollar. Alles nur, weil er das Zwölfte Gebot gebrochen hatte.